Markus Nowak

Journalist für Osteuropa, Vilnius

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Exil-Belarussen fordern Freilassung des Bloggers Protassewitsch | MDR.DE

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"My trebuyem Sanktsii", skandieren die Demonstranten: "Wir fordern Sanktionen." Nicht nur die spionagefilmreife Fluglandung bewegt die in Litauen lebenden Belarussen, sondern insbesondere die Verhaftung des belarussischen Bloggers Roman Protassewitsch und seiner Freundin, der Studentin Sofia Sapega. "Free Roman" oder "Je suis Roman" steht daher auf einigen der Papierflieger, die Protestierende über den Zaun der belarussischen Botschaft werfen.

Zusammengefaltet werden sie auf einem Campingtisch, an dem Katja sitzt. "Bei uns kann man einen Brief an die 370 Inhaftierten in belarussischen Gefängnissen schreiben oder einen Papierflieger aus Protest basteln", sagt die 25-jährige Minskerin. Seit Oktober 2020 lebt sie in Vilnius im Exil. Katja war im Team um Wiktor Babariko, einen mittlerweile in Haft sitzenden belarussischen Oppositionspolitiker aktiv und musste daher Belarus schnell verlassen. "Als wir in ein EU-Land kamen, dachten wir, wir sind frei und sicher. Aber was nun passiert ist zeigt, dass wir es nicht sind", sagt Katja. Im Hintergrund läuft der zum Protestsong aufgestiegene Sowjetrock-Klassiker "Peremen" und hier und da hupen litauische Autos im Vorbeifahren und zeigen damit ihre Solidarität mit den Protesten, während die zwei Dutzend Protestierenden ein Viktory-Zeichen machen. "Lukaschenko will sich revanchieren und wir alle hier sind potentielle Opfer", glaubt Katja.

Litauen als Zentrum des belarussischen Exils

Swetlana begleitet fast alle Proteste der belarussischen Exilanten und filmt dabei mit ihrem Handy. Ähnlich wie Roman Protassewitsch, der als Mitbegründer des regimekritischen Telegram-Kanals "Nexta" gilt, betreibt auch die 19-Jährige auch eine Telegram-Gruppe, die politische Flüchtlinge aus Belarus über verschiedene oppositionelle Aktionen in Vilnius informiert. Ob Protest-Fahrradtouren durch die Unesco-Altstadt oder Flashmobs vor der belarussischen Botschaft in weiß-rot-weißen T-Shirts, den Farben der demokratischen Opposition. "Alle, die Belarus aus politischen Gründen verlassen haben, bedeutet was am Sonntag passiert ist etwas Unglaubliches", sagt Swetlana, die eine ähnliche Geschichte mitbringt, wie viele andere, die sie zu Protesten auf ihrem Kanal organisiert. Wegen der Teilnahme an Studentendemos kam sie auf die Fahndungsliste der belarussischen Sicherheitsorgane und suchte über den "humanitären Korridor" Zuflucht in Litauen. In dem EU-Land erhielt sie ein einjähriges Visum.

"Lukaschenko ist unberechenbar"

"Ich hätte nie gedacht, dass Lukaschenko so verrückt ist, Menschen aus einem Flugzeug zu stehlen", berichtet die 19-Jährige aufgewühlt am Rande der Proteste, während sie mit ihrem Handy schon die nächsten Videos schneidet. "Niemand weiß, was als Nächstes passiert. Belarussen, die das Land verlassen haben, sind nun ängstlich. Auch ich bin es." Doch bei allem noch ungewissen Ausgang aus dem Konflikt zwischen Lukaschenko und der demokratischen Opposition, deren neuste Eskalationsstufe die Flugzeugentführung und Verhaftung von Roman Protassewitsch ist, scheint die "belarussische Angelegenheit" eine neue Stimme erhalten zu haben, heißt es aus der Community. Immerhin ist das Thema wieder auf der internationalen Agenda, nachdem die Proteste in Belarus selbst verstummt sind. Dem Ruf der politischen Flüchtlinge "my trebuyem Sanktsii", also nach Sanktionen, folgte der EU-Gipfel am Dienstag: Unter anderem wurde beschlossen, Belarus wegen der Vorgänge in Minsk vom europäischen Luftverkehr abzuschneiden.

Litauen als Exilhochburg

Das kleine, beschauliche Nachbarland Litauen spielt nicht erst seit der Flucht der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja eine entscheidende Rolle. Die litauische Hauptstadt ist schon seit Jahren eine Hochburg politisch aktiver Exilanten aus dem Nachbarland. So kommen viele Belarussen nach Vilnius, um an der Europäische Humanitäre Universität EHU zu studieren. Die Uni wurde 1992 als eine liberale Hochschule in Minsk gegründet, aber 2004 aus Belarus verbannt. Mit internationaler Unterstützung und auf Einladung der litauischen Regierung fand sie 2005 ihr neues Zuhause in Vilnius.

Außerdem ist für viele ausländische NGOs und Stiftungen kein Reinkommen ins Land möglich. Auch sie arbeiten aus dem benachbarten Exil. So etwa die Konrad-Adenauer, die ihren Sitz seit 2007 in Vilnius hat. Für viele von ihnen ist Belarus inzwischen "Sperrgebiet".

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 25. Mai 2021 | 13:00 Uhr

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