Marie-Luise Braun

Journalistin, Dozentin, Autorin, Moderatorin, Reppenstedt/Lüneburg

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Klimakrise in den Alpen: „Der Anblick einer geliebten Landschaft, die unter dem Klimawandel leidet, tut weh"

Mit massiven Wallanlagen werden in Langtaufers inzwischen manche Orte geschützt, wie hier die Bar "Gletscherblick" (links) und das Dorf Kappl . Foto: Marie-Luise Braun

Unsere Autorin Marie-Luise Braun fährt seit ihrer frühen Kindheit immer an denselben Ort in den Südtiroler Alpen. Für sie ein Sehnsuchtsort, der heute vom Klimawandel gezeichnet ist. Nicht mehr dorthin zu fahren ist für sie aber keine Option. Ein Ortsbesuch.


Nach stundenlanger Fahrt aus Deutschland dann endlich der Blick auf den Ortler. Jetzt nur noch vorbei am Reschensee mit seinem aus dem Wasser ragenden Kirchturm. Dann fahren wir links vor dem Endkopf hinein ins Langtauferer Tal. Meine Aufregung steigt, denn nun dauert es nicht mehr lange, bis wir da sind. Ich zähle: Äußere und Innere Mühl, Schmiede, Pedross, Kapron, Pazzin, Grub, Kappl… wie bei einem Tennisspiel pendeln unsere Köpfe von links nach rechts, während wir die Straße hinauffahren. Dabei sind es weniger die Weiler und Höfe, die uns bewegen, als die Geschichten und Menschen, die wir seit Jahrzehnten mit ihnen verbinden. Und die Frage: Hat sich was verändert in den vergangenen zwölf Monaten?

Jahr um Jahr bin ich mit meiner Familie in den Osterferien die Strecke vom Rheinland nach Südtirol gefahren. In dieses eine Tal, in denselben Gasthof. Bis heute spulen sich spätestens bei der Anreise die Erinnerungen ab. Hier habe ich nachts Hirsche beobachtet, dort im Stall einem Kalb auf die Welt geholfen, da haben wir Iglus gebaut. An diesem Hang haben meine beste Freundin und ich Turniere mit unseren Plüschpferden veranstaltet und dort oben lernte ich bei Johann am Lift das Skifahren. Im Dorf habe ich gefensterlt und auf dem Hof nebenan mit einem Trupp beschwipster Urlaubsfreunde die Leiter dafür geklaut. Wie oft waren wir in der Bösen Bar. Eigentlich heißt der Laden Gletscherblick und liegt – natürlich – gegenüber der Kirche. Jedes Jahr haben wir Ostern darin das Lichterfest gefeiert, um dann in der Bösen Bar zu landen. Teenager Dinge tun.

Kurz vor der Kirche macht die Straße einen Bogen, öffnet sich endlich der Blick ins hintere Tal. Dahin, wo Weißkugel (3738 m), Innerer Bärenbartkogel (3553 m) und Langtauferer Spitze (3528 m) sich erheben. Unzählige Male war ich an den Hängen. Mit Tourenskiern oder Wanderstiefeln, um oben die Aussicht auf den Himmel, die Gipfel und Gletscher zu genießen, auf der Weißkugelhütte zu essen. Nirgends schmeckt es so gut wie oben auf den Bergen, nirgends so gut wie hier.

Für meine Anreise hätte ich mir dieses Jahr kaum ein besseres Wochenende aussuchen können, um die Folgen der Klimakrise zu betrachten. Oder sagen wir „besseres“. Ende August regnet es überall in den Alpen, die Flüsse steigen über die Ufer, vor allem in Österreich. So geht meine Anreise mit dem Zug nur bis Imst, dann müssen wir wegen überspülter Gleise in Busse umsteigen. Wir sitzen im ersten Zug, der nicht bis Landeck weiterfahren kann. Im Bus ist es streckenweise unheimlich. Sämtliche Bäche sind zu reißenden Flüssen geworden, sie kommen nah an die Straßen heran, eine Strecke fühlt sich an, als säßen wir in einem Boot.

Je höher wir kommen, desto entspannter wird die Lage. Aber auch nach der italienischen Grenze haben sich selbst kleine Bäche respektabel aufgeplustert. Auch Langtaufers Karlinbach reißt Uferstücke mit, Bäume und größeres Geröll. Als ich im vergangenen Jahr dort war, hatte eine größere Welle eine Brücke mit sich gerissen. Mit Baggern wurde alles wieder hergerichtet.

Christian und Irmhild haben die Weißkugelhütte jahrzehntelang bewirtschaftet. Sohn und Schwiegertochter der siebenköpfigen Familie Hohenegger, bei der wir stets im Tal im Alpengasthof Weißkugel wohnten.

Christian war es, der mich als erster auf den Klimawandel in den Alpen aufmerksam gemacht hat. Mitte der 1990er Jahre ist er in der Saison für einen Abend heruntergekommen. Er stand auf der Straße, die Augen zusammengekniffen schaute er zur Weißkugel hinauf und schüttelte lange den Kopf. Als ich ihn fragte, was los sei, sagte er besorgt: „Der Gletscher geht immer weiter zurück.“ Mit ausgestrecktem Arm malte er dessen früheres Ausmaß in die Luft. Er fragte, wie weit das wohl noch gehen werde.

Für mich war das damals ein Schreck. Ich studierte vor 30 Jahren zwar Ökologie und Umweltkommunikation, wusste um die Lage der Erde und die Klimakrise, die damals noch nicht so genannt wurde. Überall auf der Welt zeigten sich erste Auswirkungen, in Deutschland natürlich auch. Aber hier? In meinem Paradies doch bitte nicht. Ich wollte nicht infrage stellen, was ich liebte, seit ich drei Jahre alt war: An Hängen herumkraxeln, mit Skiern die Piste hinuntersausen, selbst wenn das Gras schon durch den Schnee guckte. Mit dem Auto 1000 km weit in den Urlaub fahren.

Zusammengerechnet habe ich hier etwa ein Jahr meines Lebens verbracht. Komme ich nach Langtaufers, bin ich zu Hause. Ich muss mich nicht orientieren, um in den Urlaubsmodus zu kommen. Mit manchen aus dem Tal ist das Verhältnis familiär. Weil die Zeit begrenzt ist, ist alles besonders.

Seit dem Abend mit Christian auf der Straße zeigen sich die Auswirkungen der Klimakrise immer deutlicher. Jedes Jahr ein bisschen mehr. Vor allem die Gletscher oben wurden immer kleiner.

Über die Jahre habe ich die Veränderungen bemerkt, sie aus den Augenwinkeln beobachtet, dann immer näher an mich herangelassen. Bewusst bin ich in einem Sommer Ende der 1990er hingefahren, um zu sehen, wie die Wiesen im Skigebiet Maseben ohne Schnee aussehen. Kurz gesagt: unschön. Lärchen, Zirbelkiefern und Fichten standen in meiner Kindheit fast nur auf der südlichen Seite des Tals. Mit den Jahren wanderten sie auch dessen nördliche Seite hinauf. Ein Zeichen dafür, dass es wärmer wird.

Am 22. Januar 2018 kam nach tagelangen Schneefällen eine gewaltige Lawine fast bis zum Ort Grub herunter, wo mir liebe Menschen leben. Die Schneemassen prallten auf ein Haus aus Stroh, das den Aufpralldruck von 50 Tonnen auf der Fassadenbreite abfederte. Ein Steinhaus wäre wohl eingestürzt, heißt es in Berichten.

Kurze Zeit später errichtete die Provinz Bozen den ersten Schutzwall im Tal, der mögliche Lawinen und Muren weg von den Häusern Grubs lenkt, rauf auf freie Wiesen. Aktuell baut sie eine zweite Anlage mit mehreren Wällen, etwas weiter oben bei Kappl. Direkt hinter der Bösen Bar ragt jetzt ein imposanter Wall in den Himmel, fast so hoch wie das Gasthaus. Das mit Kunststoff und Metall stabilisierte Ding wird langsam von der Natur begrünt. Auf mich wirkt es wie ein Mahnmal der Klimakrise.

Studien belegen, dass sich in der Höhe der Alpen die Klimakrise schneller auswirkt als anderswo. Hier oben wurde das 1,5 Grad Ziel bereits gerissen, das weltweit laut Pariser Klimaschutzabkommen eingehalten werden sollte.

In den Alpen steigen die Temperaturen durch den menschengemachten Klimawandel doppelt so schnell an, wie im Durchschnitt, darauf verweisen beispielsweise das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) oder die Internationale Alpenschutzkommission CIPRA. Das lässt nicht nur die Gletscher schmelzen, das ganze Ökosystem gerät aus dem Takt. Die Wärme hat Auswirkungen auf die Artenvielfalt; wärmeliebende Arten breiten sich nach oben aus – neue Konkurrenzen um Lebensraum entstehen. Um der Klimakrise zu begegnen, sind aber funktionierende Ökosysteme wichtig. Dort wo Permafrostböden auftauen, ist die Gefahr von Muren, eine Lawine aus Schlamm und Geröll, groß.

Weltweit sind die Gebirgsgletscher mit wenigen Ausnahmen auf dem Rückzug. Sie sind wichtig als Wasserspeicher, die im Sommer Wasser abgeben. Sie dienen der Versorgung mit Trinkwassser aber auch der mit Energie, beispielsweise über Stauseen, wie dem Reschensee in Südtirol, der auch über den Langtauferer Karlinbach gespeist wird. „In den Alpen dürfte schon in dreißig Jahren die Hälfte der Gletschermasse verschwunden sein“, heißt es in einem Bericht des PIK und: „Bei ungebremsten Emissionen würden die Alpengletscher bis Ende des Jahrhunderts fast komplett verschwinden.“ Ich mag mir das nicht vorstellen. Das Bergpanorama am Ende Langtaufers komplett in braun-grau.

Wiederholt sagen mir Menschen aus dem Tal, dass die Gletscher oben an der Weißkugel täglich um 10 Zentimeter schmelzen. In der Woche vor meinem Aufenthalt erreichten die Temperaturen im Tal 27 Grad. Wohlgemerkt in einem Tal, dessen tiefstes Gehöft auf etwa 1500m liegt und das höchste – der Weiler Melag – auf 1915m. Sylvia, meine Wirtin vom Gasthof Alpenfriede, sagt: „Dass wir abends mal draußen sitzen können, das gab es eigentlich nie.“ Zumal vom Gletscher oben abends die kalte Luft durchs Tal fließt. Aber der wird ja kleiner.

Nicht erst bei der Anreise mit dem Bus vorbei an den wildgewordenen Bächen frage ich mich, ob ich das wirklich alles so genau wissen möchte mit der Klimakrise in den Alpen. Berichte lesen sich bei aller Dramatik doch etwas nüchterner als eine geliebte Landschaft. Es ist ja auch möglich, Spuren der Veränderung weitgehend zu übersehen oder zu ignorieren. Auch die größte Lawine taut irgendwann. Aber mein Wissen aus Studien, aus Gesprächen mit Wissenschaftlern verschwindet ja nicht.

Ich bekomme deutlich zu spüren, wie paradox wir Menschen aufgestellt sind. Theoretisch habe ich mich mit den Widersprüchlichkeiten zwischen Wissen und Handeln befasst. Auch ich kämpfe manchmal mit alltäglichen Gewohnheiten, die dem Klimaschutz widersprechen. Und eben auch hier. Mein Herz und mein Hirn tanzen umeinander herum. Stolpernd.

Auch diesen Text zu verfassen, macht etwas mit mir. Es kommt mir vor wie Verrat, so über die Lage „meines“ Tals zu schreiben. Es ist nach wie vor wunderschön. Schade ich den Menschen, wenn ich die Lage verdeutliche, die neben aller Schönheit in der Landschaft steckt?

Nicht hinzufahren ist für mich keine Alternative. Zumal der Alpenraum auf Tourismus ausgerichtet ist. Auch im Tal leben die meisten Menschen davon. Es müsste schon seit vielen Jahren ein anderes Konzept für die gesamte Region her. Aktuelle Berichte zeigen, dass die Hälfte der alpinen Skigebiete wegen der Klimakrise verschwinden werden. Sanfter Tourismus, das wäre es. Vor allem der Anreiseverkehr sorgt für einen großen CO2-Abdruck. Ihren Klimaschutzplan 2040 hat die Autonome Provinz Bozen erst im Sommer 2022 verabschiedet.

Ich wandere auf die Weißkugelhütte. Hier sticht die Veränderung besonders deutlich ins Auge. Konnten wir Tourengänger früher noch nah bei der Hütte in die Gletscher einsteigen, um auf die Gipfel zu kommen, müssen wir heute einige hundert Meter weit laufen. Gefühlt sind Gepatschferner, Langtaufererferner und Bärenbartferner, wie hier die Gletscher heißen, um ein Drittel geschrumpft. Sie haben sich in zwei Teile gespalten, dazwischen eine große braune Fläche. Wäre es hier noch weiß, würde der Gletscher weniger schnell tauen. So befeuert sich die Gletscherschmelze auch noch selbst.

Die Weißkugelhütte wird in absehbarer Zeit wohl so nicht mehr betrieben werden. Sie ist zu alt, um sie zu sanieren, das Land Südtirol will eine neue Schutzhütte für Alpinisten errichten, Luftlinie etwa 1000 m entfernt. Dort ist man auch wieder näher am Gletscher. Erst einmal.

Ich selbst wandere wieder hinunter ins Tal. Ein paar Tage später fahre ich nach Hause. Hier begleiten mich die Gedanken weiter. Zwischen all den Berichten über Waldbrände, Hitze und Überschwemmungen ploppen immer wieder die Bilder des Hochwassers von der Anreise auf, die des geschrumpften Gletschers und der Schutzwälle. Die Auswirkungen der Klimakrise werden deutlicher, überall. Wir können nicht ausweichen. Nicht mal in unseren Urlaubsparadiesen werden wir uns davon erholen können.

Ende November beginnt die Klimakonferenz in Dubai. Bei den bisherigen Konferenzen sind keine Vereinbarungen getroffen worden, an die sich alle Staaten ernsthaft gehalten hätten. Wie viel Signale braucht es noch, bis das passiert?



Zum Original