Unheimliches Setting: Es ist dunkel, es ist kalt, und wir stehen in Brooklyn. Besser gesagt, am India Street Pier. Gegenüber schaltet Manhattan gerade seine Lichter ein, der Hudson schwappt gegen die Metallpoller des Stegs, und ein scharfer Wind treibt uns in das gläserne Wartehäuschen der Fährlinie. Zwei junge Anwälte haben sich schon hierher verkrochen. Sie haben die Kragen ihrer schwarzen Wollmäntel hochgeschlagen und reden über das Abschlussplädoyer eines Kollegen.
Ein paar andere Gestalten bleiben auf dem Anlegesteg und trotzen dem Wind. Die Fähre tuckert heran, treibt noch größere Wellen gegen die Metallpoller und spuckt Fahrgäste aus, die über die Planken aufs Festland hetzen. Keiner steigt ein. Wer hier ausharrt, wartet auf etwas Anderes, etwas Neues, auf etwas, das die eventübersättigten New Yorker, die schon alles gesehen haben, an einem kalten Herbstabend bis an eine Anlegestelle weit hinter Williamsburg zieht. Es ist 19.20 Uhr. Und pünktlich auf die Minute kommt Kelli Farwell herbei, drahtig und mit schnellen Schritten, und ruft die Losung, auf die alle warten: "The Watertable, anybody?"
"The Watertable" heißt eigentlich "The Revolution" und ist ein altes Navy-Dampfboot, das uns heute Abend den East River hinab und durch die New Yorker Bucht schippern soll. Doch nicht nur wegen einer nächtlichen Hafenrundfahrt stehen hier alle Schlange. Kelli Farwell und ihre Crew servieren dazu ein Drei-Gänge-Menü, Drinks soll es auch geben. Nachdem Kapitänin Farwell die Gruppe für den heutigen Abend zusammengesammelt hat, marschieren wir die Holzplanken hinunter zur "Revolution".
„Keine Nacht gleicht einer anderen"Der kleine graulackierte Dampfer ist von der Navy im Jahr 1944 als Übungsschiff gebaut worden. "Das Boot wurde konstruiert, um Seeleute darauf zu trainieren, daher ist es so schwer, sie unter Kontrolle zu halten", wird Kelli Farwell später erzählen. Sie hat vor mehr als zwei Jahren ihre Kapitänslizenz gemacht und steht auch in dieser Nacht hinterm Ruder. "Man muss echt aufpassen", sagt sie. "Keine Nacht gleicht hier draußen einer anderen. Ich habe bei den Fahrten gelernt, mit Ebbe und Flut zu arbeiten. Das Wasser bringt einem immer etwas Neues bei."
Nach dem Krieg stand das Boot bei der New Yorker Feuerwehr im Dienst, dann fuhr es zwei Jahrzehnte in Boston als Fähre. "Als wir es dort fanden, hatte es den Charme eines Schulbusses: Die Stühle standen in engen Reihen und waren festgeschraubt, man hatte das Gefühl, gleich bringt jemand Chips und Limo. Außerdem nistete hier ein Taubenpärchen."
Davon ist nichts mehr zu sehen. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Sue Walsh hat Farwell die Inneneinrichtung vollkommen verändert, nur der glänzende Holzboden ist noch original. "Low Budget", sagt Farwell. Nur für die elektrischen Installationen und die größeren Tischlerarbeiten habe sie zu Beginn Profis engagiert. "Aber selbst das kann ich mittlerweile allein", sagt sie und lacht. (...)
Zum Original