„Bis ich 13 Jahre alt war, dachte ich, dass Kinder einfach auftauchen, wenn man heiratet." Mythen über das Jungfernhäutchen, Tabus und Irrglauben: Sexuelle Aufklärung kommt in Migra-Communities oft zu kurz - vor allem bei den T ö chtern. Doch was macht das mit ihrer Sexualität im Erwachsenenleben?
Wenn ich mit meinem Partner intim werde, frage ich mich noch heute als 25-jährige Frau, ob das moralisch eigentlich in Ordnung ist " , erzählt Pinar bedrückt. Pinar ist in Wien aufgewachsen und hat türkische Wurzeln. In der türkischen Community hat die Jungfräulichkeit - vor allem, wenn es um Frauen geht - einen gesellschaftlich hohen Stellenwert. Das hat Pinar schon früh gelernt. Aber auch nur das. Jungfrau bleiben, bis man heiratet - das wird einem eingebläut. Aber alles rundherum bleibt ein Tabu. So auch bei Pinar: Sexuelle Aufklärung war nie ein Thema zwischen ihr und ihrer Mutter. Über Sex wurde nicht gesprochen, weder im positiven noch im negativen Sinne. Dieses Schweigen legte über die Jahre hinweg einen Schleier aus Scham und Schuldgefühlen über ihre eigene Sexualität. Wie diese fehlende Aufklärung ihr Leben als erwachsene Frau beeinflussen würde, war ihr damals noch nicht bewusst.
Häufig wird von den Eltern die jeweilige Religion als Grund für die Notwendigkeit, bis zur Ehe Jungfrau zu bleiben, angeführt. Religi ö se Institutionen bieten häufig Aufklärungsunterricht an, jedoch wird auch erklärt, dass Sex nur innerhalb der Ehe gestattet ist. Aber nicht alles beruht auf Religion. „Es ist schwer, den Glauben von der Kultur abzutrennen " , so die Sexualpädagogin Elif Gü l. „Überall auf der Welt gibt es unterschiedliche Einstellungen und Moralvorstellungen zum Thema Sexualität." In den unterschiedlichen Communitys herrscht demnach das Bedürfnis, sich von den „anderen" abzugrenzen. Nach dem Motto: „Wir sind nicht so verdorben wie die anderen. Das gibt es bei uns nicht." Um das Eigene zu wahren, herrscht bei vielen Eltern folgende Annahme: Wenn die Kinder wenig über Sex wissen, werden sie auch keinen Sex haben. Dabei hätten früh aufgeklärte Jugendliche tendenziell später ihr erstes Mal, erklärt Gül. Die Kinder in Unwissenheit zu belassen, wird von Eltern oft als eine Art Schutz für diese empfunden. Es gehe aber häufig auch darum, die Sexualität der Frauen zu kontrollieren und die gesellschaftlich geprägten Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Gül erklärt, dass die Angst geschürt werde, aus den jeweiligen Communitys verbannt werden zu k ö nnen, wenn man sich nicht an diese Gebote hält. Deshalb informieren sich viele Frauen heimlich und sprechen nicht über ihr Sexleben.
„Ich verstehe auch dieses ganze Gerede über das Jungfernhäutchen nicht " , erzählt Pinar genervt und verdreht ihre Augen. Sie spielt auf die absurde Obsession der migrantischen Communitys für das Hymen an. Bereits in der Schule reden alle Mädchen darüber, dass man keine Gymnastik machen dürfe, auch Fahrrad fahren sei schlecht und Tampons sollte man sowieso niemals benutzen - alles nur, damit das Häutchen bloß nicht reißt. Auf Social Media erzählen auch viele junge Frauen, dass sie sich vor ihrer Hochzeit ihr Hymen bei einem Frauenarzt leicht zunähen haben lassen, damit sie in der Hochzeitsnacht bluten. „Das sieht doch bei jeder Frau anders aus und reißen muss es beim Sex auch nicht " , ärgert sich Pinar. Unrecht hat sie damit nicht. Laut der Sexualpädagogin ist das Hymen eine sehr dehnbare Schleimhaut, welche auch nach dem Sex unverändert aussehen kann. Reißen muss da nichts.
Auch Adelina wurde von ihrer Familie nicht aufgeklärt, was dazu führte, dass sie jahrelang ihre Bedürfnisse nicht wahrnahm und ebenfalls Dinge tat, die sie eigentlich gar nicht wollte. „Es braucht offene Kommunikation " , erklärt die 36-Jährige mit albanischen Wurzeln. Heute ist Adelina Mutter eines 13-jährigen Sohnes. Bereits mit sechs Jahren hat sie ihm Kinderaufklärungsvideos auf YouTube gezeigt. Sie baute sich, anders als ihre Eltern, eine Beziehung zu ihrem Sohn auf, in der er ihr ohne Scham Fragen zum Thema Sex stellen kann. „Ich habe ihm erklärt, dass er selber über seinen K ö rper entscheiden kann, damit er lernt, wo seine pers ö nlichen Grenzen sind " , erklärt sie.
Bald m ö chte Adeline ihm zeigen, wie man verhütet und ein Kondom verwendet. Laut ihr hätten Menschen mit Migrationshintergrund eine verkorkste Vorstellung davon, wie Respekt den Eltern gegenüber gelebt werden k ö nne, und hätten daher Angst, mit ihnen über intimere Themen zu reden. Sie will jedoch, dass sich ihr Sohn wohlfühlt und keine Angst hat. Sie will, dass er weiß, dass er mit jeder Unsicherheit zu ihr zu kommen kann. Das alles will sie, damit er nicht auf sich alleine gestellt ist - wie die Generationen vor ihm - und mit Irrglauben und Sex-Mythen aufwächst, die nur kontraproduktiv sind. Irgendwann geht sich das einfach nicht mehr aus. ●
Die Fotos wurden für die Geschichte nachgestellt.