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In einer Groß-WG zu leben, das heißt vor allem, dass es von allem mehr gibt: mehr Menschen, mehr Zimmer, mehr dreckiges Geschirr, mehr Teesorten, mehr Post, mehr Müll, mehr Wecker, mehr Schuhe im Flur, mehr Kuchen auf dem Küchentisch, mehr Lebensmittelmotten, mehr Geburtstage, mehr Tratsch, mehr Prüfungsstress, mehr Streit, mehr Lärm, mehr Liebe.
Manches vom mehr ist schön, manches davon nervt, und das jeden Tag. Kommt man heim, stolpert man erstmal über ein Paar Sportschuhe, das mitten im dunklen Flur zwischen Fahrradwerkzeug und einem einzelnen, einsamen Handschuh quer im Weg liegt. Der Biomüll quillt schon wieder über, und auf dem Abtropfdingsbums neben der Spüle haben die Mitbewohner im Laufe des Tages aus Tellern, Töpfen, Schüsseln, Gläsern, Tassen den schiefen Turm von Pisa nachgebaut. So geht das immer, jeder stellt sein Geschirr noch dazu, als gäbe es einen WG-internen Wettbewerb darum, wer den Turm am höchsten bauen kann, bevor er zusammenbricht und es klirrt. Irgendwann erbarmt sich jemand und räumt alles weg, und dann geht das Spiel von vorne los. Alle paar Monate wird dann halbherzig darüber geredet, dass man sich ja mal eine Spülmaschine zulegen könnte, aber dann passiert doch wieder nichts.
Wer spült das Geschirr meiner Gäste?„Warum tust du dir das an?", lautet die häufigste Frage, wenn man sich mal wieder bei unbeteiligten Dritten über die mangelnde Hygiene und die daraus resultierende angespannte Stimmung beschwert. Ja, warum eigentlich? Tatsächlich habe ich Zeit meines Lebens mit mindestens fünf anderen zusammengewohnt. Mit Eltern und drei Geschwistern. Mit sechs anderen in einer WG im Wohnheim, die einer Wundertüte glich: Jedes Semester kamen ein, zwei, manchmal drei neue Leute dazu, manche mochte man mehr, andere weniger, man musste sich arrangieren. Dann, in Texas, habe ich in einem Co-Op gewohnt, mit sechzig anderen Studenten in einem riesigen Haus, mit Industrie-Küche, in der ich einmal in der Woche Abendessen für alle gekocht habe - das gehörte zur Miete: Kochen, Putzen, Einkaufen, irgendwas, um die Riesen-WG am Laufen zu halten.
Und dann, nach meiner Rückkehr aus den Staaten, bin ich bald in meine jetzige WG gezogen, mit drei meiner besten Freundinnen aus den ersten Semestern, in ein Reihenhaus, in einer Siedlung, in der wir die einzigen Studenten sind. Wir haben sieben Zimmer, drei Bäder eine große Wohnküche, einen Hobbykeller (der wahlweise als Gästezimmer, Partykeller, Fitness-oder Fernseh-Chill-Out-Raum genutzt wird), einen Waschkeller, einen kleinen Garten. Drei der Zimmer waren noch frei, als wir den Mietvertrag unterschrieben haben, die haben wir über Casting vergeben, mit unterschiedlich glücklicher Hand. Ein Erasmus-Student, mit dem wir uns eigentlich gut verstanden haben, ist mit Mietschulden zurück nach England verschwunden und ward nie mehr gesehen. Ein Sprachstudent, der einmal im Sommer für eine Zwischenmiete da war, konnte weder ein Bett beziehen noch eine Waschmaschine bedienen, und verstand auch nicht, warum wir ihn für das dreckige Geschirr seiner Gäste verantwortlich machten.
Aber nach und nach haben wir für jedes Zimmer jemanden gefunden, der reinpasst. Inzwischen wohnt seit über zwei Jahren neben drei meiner besten Freundinnen auch noch eine meiner Schwestern bei uns und ein Glücksgriff, den wir bei einem WG-Casting gelandet haben: er kommt aus Syrien, hat rasant Deutsch gelernt, kann Fahrräder und Waschmaschinen reparieren, Baklava backen, sein Hummus ist stadtbekannt, und auch die Nachbarn ein paar Häuser weiter sind dankbar, weil sie endlich einen Babysitter gefunden haben, der ihre fünf Söhne in Schach halten kann.
Sicher, man ärgert sich über Schuhe, Geschirr und Unordnung, wenn man abends nach Hause kommt, aber einen Meter neben der Spüle hat auch jemand einen Adventskalender aufgehängt, der beim Aufräumen im Keller aufgetaucht ist, andere haben über den Tag hinweg Kleinigkeiten reingesteckt und jetzt ist er so prall gefüllt, dass in jedem Fach für jeden Mitbewohner was drinsteckt. Das ist Groß-WG: Man kann nicht immer vom Boden essen (eigentlich nie), und manchmal liegen alle zwanzig Buttermesser dreckig neben der Spüle, aber auf dem Tisch steht was Gekochtes oder Gebackenes mit dem Hinweis „Gönnt euch!".
Die Wall of Shame half auch nichtGroß-WG - und die fängt nach meinem Verständnis bei fünf Leuten an - ist für Menschen gemacht, die bereit sind sich zu streiten und wieder zu vertragen. Für Menschen, die für sich einen Weg finden, Rückzug ins eigene Zimmer und Einbringen in die Gemeinschaft vernünftig zu managen. Für solche, die Bock auf eine Wohn gemeinschaft und nicht bloß auf mehr oder weniger anonymes Nebeneinanderleben hinter abschließbaren Wohnheimtüren entlang eines langen, tristen Flurs haben.
Natürlich könnte man sagen, dass es eine kleine WG auch tun würde, dass man dort viele Vorteile des WG-Lebens genießen kann, ohne dass permanent so viel los ist. Aber das ist der springende Punkt, vieles wird erst cool, wenn man es mit vielen macht: Ein opulenter Brunch, zu dem jeder was mitbringt, ist umso opulenter, je mehr Menschen dabei sind. Ziehen sich dann alle noch den zur WG-Uniform ernannten Einteiler an, ist der Neid all jener gewiss, die beim hausinternen Ritual außen vor bleiben.
Was das Putzen angeht, erweist sich wohl eine stoische Gelassenheit als besonders tragfähig. Es ist ja nicht so, dass man nicht schon alles probiert hätte, vom naiven Vorschlag, jeder könne ja einmal in der Woche ein bisschen putzen, wo es ihm grade am nötigsten vorkommt, über den detaillierten Plan inklusive einer Wall of Shame, auf der ganze zwei Wochen Putzverweigerer notiert wurden, bis die allgemeine Motivation abfiel und sich dann doch keiner berufen fühlte, Hausmeister-gleich zu prüfen, wer die Kehrpflicht ignoriert hatte. Wenn es ganz schlimm wird, kann man eine gemeinsame Putzschicht einberufen, zu der sich mit etwas Glück dann doch auch zwei oder drei zusammenfinden und zur berüchtigten 90er-Trash-Musik-Liste die Lappen schwingen. Im besten Fall lässt sich gemeinsam putzen und gemeinsam feiern elegant verbinden: Als Groß-WG mit viel Platz sind Grillfeste im Sommer und Kellerpartys im Winter sozusagen Pflichtprogramm. Bevor im Sommer aber das Planschbecken („Der Pool") im Garten aufgestellt wird, muss der Rasen gemäht werden, und nach dem Grillfest muss auch wieder großflächig aufgeräumt und geputzt werden.
Und neben den alltäglichen Problemchen sind auch diese alltäglichen Freuden nicht zu vergessen: Wenn man den Schlüssel daheim vergessen hat, stehen die Chancen gut, dass im Laufe des Tages noch jemand in die Uni kommt und ihn einem nachträgt. Wenn man von einem langen Wochenende auswärts zurückkommt, Montagmorgen, nach 20 Stunden im Bus, dann hat mit etwas Glück ein Mitbewohner Frühstück vorbereitet. Und, ja, Leben in der Groß-WG kommt einem manchmal so vor, als wäre man Protagonist in einer Soap, wie „Friends", nur ohne eingespielte Lacher. Nächtlichen Besuch etwa durch den Flur, an der Wohnküche vorbei, über zwei Treppen ins eigene Zimmer zu schleusen, und am nächsten Morgen wieder zurück zur Haustür, ohne dass es jemand mitbekommt, das ist praktisch unmöglich. Im Zweifelsfall sitzen morgens vier andere am Küchentisch, die neugierig die Hälse recken und dem Gast entweder einen Kaffee anbieten und ihn/sie direkt ausfragen oder aber, ist die Haustür ins Schloss gefallen, fragen: „Wer war denn das?!"
Ein Grill-Saison lang sind wir noch zusammenDer Küchentisch in einer Groß-WG ist ein magischer Ort. Wenn einem nach Gesellschaft ist, muss man sich nur dorthin setzen und früher oder später kommt jemand dazu, mit was zu Essen, einer großen Tasse Tee oder einem großen Glas Wein. Am Küchentisch kommt man nicht nur zum Essen zusammen, mal zufällig zu zweit oder zu dritt bei einem schnellen Frühstück vor der Uni, mal zu einem opulenten Brunch oder Raclette-Abend in voller Besetzung. Am Küchentisch wird Weltpolitik diskutiert und Tratsch aus dem gemeinsamen Freundeskreis ausgetauscht. Hier werden neue Lebensabschnittspartner fast unbemerkt ins WG-Leben eingeführt - P.S., der ist hier jetzt öfter; und hier gedenkt man Verflossenen, Einmaligen, Fehlgriffen - gut, dass das nix geworden ist, weißt du noch Stefan/Günther/Klaus?!
Irgendwie habe ich mich so daran gewöhnt, dass mein Leben sich um einen großen Küchentisch dreht, wo auch immer er gestanden hat, dass ich ein bisschen Angst habe, dass das irgendwann mal nicht mehr so ist: Der WG als Lebensform haftet ja ein Moment des Übergänglichen an. Irgendwann zieht dann doch so ziemlich jeder mit dem Partner zusammen, oder man lebt halt allein, weil irgendwann der Wunsch, mal nur noch den eigenen Dreck wegzumachen (oder eben auch nicht) Überhand gewinnt. Und das finde ich schade. Warum nicht mit mehreren Paaren in einer WG leben? Warum nicht mit einer anderen Familie ein Haus teilen? Noch ist das eine ferne Phantasie - aber mit guten Freunden zusammen zu ziehen, war auch irgendwann einmal nur ein verrückter Traum, von dem die meisten abgeraten haben.
Im Moment gilt aber noch die übliche Zeitrechnung einer Groß-WG: Eine Grill-Saison lang sind auf jeden Fall noch alle da, und vielleicht auch noch für die nächste Weihnachtsfeier. Dieses Jahr gab es Flammkuchen und Bratäpfel, und neben meinen jetzigen Mitbewohnern war auch ein ehemaliger da: Wir haben vor fünf Jahren in der Siebener-WG im Wohnheim zusammengewohnt, er war damals Austauschstudent aus Singapur. Jetzt ist er für seinen Master zurückgekommen, und sein erster Anlaufpunkt war meine neue WG, denn für Mitbewohner (auch für ehemalige, die zu Freunden geworden sind, wenn sie es nicht vorher schon waren) gilt in einer ordentlichen Groß-WG: Mein Haus ist dein Haus.
Schlagwörter: Leben in der Groß-WG