Wie beeinflusst Politik Musik? Der Historiker Murat Meriç erklärt, wie Erdogans Regierung Konzertveranstaltern das Leben schwermacht - und warum bei Staatsbegräbnissen heute wieder osmanische Märsche gespielt werden.
Ein Interview von Margherita Bettoni
SPIEGEL ONLINE: Herr Meriç, wenn Sie die Türkei mit einem Lied beschreiben müssten, welches wäre es?
Murat Meriç: Früher hätte ich das Lied "Mutlaka Yavrum" des Sängers Cem Karaca genannt. Er singt: "Du wirst meine Türkei mit Sicherheit glücklicher sehen, mein Kind". Momentan ist die Situation allerdings so hoffnungslos, dass ich mehr und mehr den Mut verliere. Vom Titel her würde zur aktuellen Lage Teomans "Paramparça" (Deutsch: "Ganz zerfetzt") vielleicht ganz gut passen.
SPIEGEL ONLINE: Welchen Einfluss haben 16 Jahre AKP-Regierung auf die türkische Musik gehabt?
Meriç: Die AKP-Regierung beschäftigt sich nicht so viel mit Musik. Das liegt vermutlich daran, dass Religion für die AKP eine wichtige Rolle spielt und diese für sie nicht wirklich mit Musik zu vereinbaren ist, was eigentlich so nicht sein müsste. Die AKP unterstützt Musikproduktion nicht. Im Gegenteil. Sie erschwert sie.
SPIEGEL ONLINE: Wie das?
Meriç: Zum Beispiel durch eine Reihe von Steuern: Es gibt eine Steuer auf die Musikproduktion, eine auf den Verkauf von Musik. Dann gibt es eine Alkoholsteuer und sogar eine Steuer dafür, dass man an manchen Orten feiern darf. Diese Steuern erschweren die Arbeit der Musikstudios, Produktionsfirmen und Konzertorte, die sich finanziell nicht mehr halten können.
SPIEGEL ONLINE: Setzt die Regierung auch Zensur ein?
Meriç: Ja. Die Regierung will Musikern, die regierungskritisch sind, die Stimme nehmen. Lieder werden verboten und Razzien in Musikstudios durchgeführt. Lieder, die bestimmte Worte beinhalten, werden zensiert. Worte wie "sarhos" (Deutsch: betrunken) oder "sevismek" (Deutsch: Liebe machen) dürfen nicht mehr im Radio oder Fernsehen gespielt werden. Ein türkischer Klassiker ist das Lied "Unter den Sternen". Eine Zeile lautet: "Mein Herz ist betrunken, unter den Sternen, wie schön ist es, unter den Sternen Liebe zu machen". Es darf nicht mehr auf dem staatlichen Sender TRT gespielt werden. Bald wird die Situation noch schwieriger: Alle Audio- und Videostücke im Internet werden demnächst der Kontrolle der Rundfunkbehörde RTÜK unterliegen, der Gesetzesentwurf liegt im Parlament. Auch YouTube-Videos könnten somit verboten werden.
SPIEGEL ONLINE: Ist diese Art der Kontrolle neu in der Türkei?
Meriç: TRT hatte schon immer eine eigene Kontrollinstanz. Musik wurde angehört und erst dann wurde entschieden, ob das Lied ausgestrahlt werden durfte. Nach dem Militärputsch in den Achtzigerjahren wurde das "Bandrol"-System eingeführt, das damals missbraucht wurde, aber heutzutage das Urheberrecht schützt: Um veröffentlicht zu werden, braucht eine CD einen Sticker vom Kultusministerium. Durch dieses System wurden in den Achtzigern viele Lieder zensiert, zum Beispiel das Lied "Güneye giderken". Eine Zeile darin lautet:"Solda günes yüksekliyordu", also: "Die Sonne schien links". Das wurde als politische Botschaft verstanden und geändert. Die Zeile am Ende heißt nun: "Die Sonne schien auf der Straße".
SPIEGEL ONLINE: Setzt die AKP-Regierung auch Propagandamusik ein?
Meriç: Vor den Wahlen versucht die Regierung manchmal, Lieder einzusetzen, aber sie haben selten Erfolg. Man kann Propagandamusik vor allem in den ersten Jahren der Türkischen Republik finden. Da wurde zum Beispiel ein Marsch produziert, um den Menschen das neue Alphabet beizubringen, oder ein Lied über Hüte, um zu erklären, wieso man plötzlich westliche Hüte anstatt den osmanischen Fes tragen sollte. Musik drückt Zustände aus und prägt sie zugleich, im Negativen wie im Positiven.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?
Meriç: Schon im Osmanischen Reich haben Oppositionelle Musik eingesetzt, um ihrer Meinung eine Stimme zu verleihen. Und Musik hat beispielsweise bei den Gezi-Protesten im Jahr 2013 eine wichtige Rolle übernommen. Durch Gezi sind Tausende von Liedern entstanden. Gleichzeitig kann Musik auch negative Auswirkungen haben. In den Siebzigerjahren, als die Spaltung zwischen Linken und Rechten in der Türkei einen Höhepunkt erreicht hatte, und Leute sich wegen der Gewalt fast nicht mehr trauten, auf die Straßen zu gehen, sangen manche Musiker Texte von Alparslan Türkes, dem Gründer der rechtsnationalistischen Partei MHP. Sie forderten die Menschen etwa auf, Leute aus dem anderen Lager zu erschießen.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben ein Buch geschrieben, das "Die Geschichte des Landes in 100 Liedern heißt". Kann man die Historie eines Landes nur anhand von Musik erzählen?
Meriç: Natürlich. Lieder drücken immer einen gesellschaftlichen Zustand aus. In den Fünfzigerjahren hat etwa Celal Ince, einer der größten Popmusiker der Zeit, im Zuge des Marshall-Plans ein Lied geschrieben, das "Freundschaft" heißt, um die türkisch-amerikanische Beziehungen zu preisen. In den Sechzigern wurden wiederum Lieder produziert, die diese Freundschaft als scheinheilig kritisierten, nachdem die USA sich wiederholt in die Innenpolitik der Türkei eingemischt hatte.
SPIEGEL ONLINE: Hat die Beziehung zu Deutschland geschichtlich auch eine Rolle für die türkische Musik gespielt?
Meriç: Eine sehr wichtige. Musiker, die über Sehnsucht nach Heimat und Familie gesungen haben - etwa der Sänger Ferdi Tayfur - hätten ohne die Gastarbeiter in Deutschland nie den gleichen Erfolg gehabt. Und andere Musiker, wie etwa Orhan Gencebay, konnten in Deutschland die staatliche Zensur umgehen: Nach dem Militärputsch wurde das Musik-Genre Arabeske in der Türkei unterdrückt. Gencebay produzierte seine Lieder deshalb in Deutschland. Deutschland hat außerdem den Hip-Hop in die Türkei gebracht: Als ich in den Achtzigern die Beastie Boys gehört habe, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Hip-Hop eines Tages auch bei uns produziert wird - doch dann brachte ihn die deutsch-türkische Hip-Hop-Band Cartel in die Türkei.
SPIEGEL ONLINE: Präsident Erdogan knüpft oft an die Geschichte und Größe des Osmanischen Reichs an - nutzt er auch Musik aus dieser Zeit?
Meriç: Zumindest setzt die Regierung bestimmte Lieder aus der osmanischen Vergangenheit bewusst ein. Wenn Erdogan auftritt, werden oft Janitscharen-Lieder gespielt, osmanische Militärmusik. Das kann man auch bei offiziellen Staatsbeerdigungen beobachten: Früher wurde für Gefallene Chopins "Trauermarsch" aufgeführt. Nun möchte die Regierung aber, dass diese Beerdigungen wieder religiöser werden. Das neue offizielle Trauerlied ist osmanisch.
SPIEGEL ONLINE: Wissen Sie, welche Musik Präsident Erdogan hört?
Meriç: Diese Frage könnte ich für alle Präsidenten der Vergangenheit beantworten, nur für Recep Tayyip Erdoan nicht. Beinahe alle türkischen Präsidenten waren an Musik interessiert: Der Gründer der Republik, Mustafa Kemal Atatürk, hat im engen Kreis oft selber gesungen. Ismet Inönü, der nach dem Tod Atatürks Staatschef wurde, liebte klassische Konzerte; in seinen späten Jahren, als er schwerhörig wurde, saß er im Konzertsaal extra nahe den Lautsprechern. Erdogan zitiert gerne eine Liedzeile: "Beraber yürüdük biz bu yollarda" aus dem gleichnamigen Lied der Sängerin Muazzez Abac, also: "Wir sind diesen Weg gemeinsam gegangen". Aber ob das bedeutet, dass er Musikliebhaber ist? Ich weiß nicht.