John Cale meldet sich nach über zehn Jahren mit neuem Album zurück. Auf "Mercy" lädt er ein zu einem anspruchsvollem Trip, mit Abzweigungen in postmodernen Pop, aktuellen Indie und globale Klänge.
Von Marc Mühlenbrock
John Cale hat Musikgeschichte geschrieben. Er war in den 60er-Jahren mit Lou Reed zusammen einer der Masterminds von The Velvet Underground. Die Band brach mit den Strukturen des damals allgegenwärtigen Beat oder Rock'n'Roll und wurde zum visionären Vorreiter für unzählige Bands, die nach ihnen kamen.
Von Marc Mühlenbrock
Denn alles war möglich bei The Velvet Underground. Klar, auch mal Rock'n'Roll, aber eben auch psychedelische Mantras oder Songs mit Verweisen auf moderne Klassik, von der Cale ursprünglich kam - mit dunklen, lebensnahen Texten über Liebe, Sex und Drogen und einer wechselseitigen Verbindung von Musik und Kunst im Umfeld des Pop-Art-Superstars Andy Warhol, von dem auch ihr legendäres Albumcover mit der Banane stammt.
All dies hat The Velvet Underground das Image einer einzigartigen Kunst-Band gegeben. John Cale hat sich dieses Image bewahrt, als Avantgardist und Dekonstrukteur. Er ist inzwischen 80 Jahre alt und denkt gar nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen.
Sein letztes Album mit neuem Material ist über zehn Jahre alt. Er war aber nicht untätig, hat an einer Dokumentation über The Velvet Underground gearbeitet. Er hat in der demilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea ein Konzert gegeben oder eine Armada fliegender Drohnen zu einem Orchester geformt und dirigiert. John Cale ist auf einer Mission. Das prägt auch sein neues Album "Mercy".
Seine siebzehnte LP ist ein anspruchsvoller Trip, für den man sich Zeit nehmen muss und der viele interessante Abzweigungen bietet, zu denen man sich gern führen lässt. Cale mag keine eindimensionale Musik, die strikt einem bestimmten Genre zugehört. Wie er diese Herangehensweise umsetzt, überrascht in seiner Radikalität. Cale pfeift auf gängige Songstrukturen. Moderne Sounds aus Elektronik, Afrobeats und Dub - heute auch Teil der Charts - verfremdet Cale und gibt ihnen einen dunklen Anstrich.
Im Titeltrack oder in "The Legal Status of Ice" singt er von düsteren Zukunftsprognosen, korrupter Politik und unbedachtem Umgang mit der Natur. Mit tiefer, markerschütternder Stimme wechselt er zu gefühlvoller Liebeslyrik in "Story of Blood". Eine Wendung, mit der man nicht rechnen konnte. Oder er erinnert sich nostalgisch an die Ex-Weggefährten Nico und David Bowie in "Moonstruck" und "Night Crawling".
All das macht John Cale mit einer illustren Schar an Gästen. Indie-Soul-Star Blood Orange zum Beispiel, die Global-Indie-Helden von Animal Collective oder Afrobeat-Drummer-Legende Tony Allen. Sie alle setzen Akzente in den ausufernden Songs, sind wichtige Nebendarsteller in diesem Mikrokosmos von einem Album.
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