Marc Engelhardt

Korrespondent, Autor, Afrika-Analyst, Genf

1 Abo und 2 Abonnenten
Artikel

Das Finanzsystem von Boko Haram

Die Hintergründe der Entführung von über 240 Mädchen im Norden Nigerias kommen allmählich ans Licht: Die Terrorgruppe Boko Haram wollte ein Exempel statuieren, um ChristInnen zum Zahlen von Steuern zu zwingen.

Von Marc Engelhardt

Über drei Monate ist es her, dass die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram mehr als 240 Schülerinnen aus Chibok im Nordosten des Landes entführt hat. Seitdem haben die Dschihadisten vor allem im Bundesstaat Borno fast täglich Dörfer überfallen, Häuser niedergebrannt und willkürlich Männer, Frauen und Kinder getötet - mindestens tausend Menschen seit der Entführung am 15. April.

Die Regierung, die die Entführung fast drei Wochen lang ignorierte, hat internationale TerrorspezialistInnen zu Hilfe gerufen. Doch abgesehen von ein paar Dutzend Mädchen, die selbst fliehen konnten, fehlt bis heute jede Spur von den Geiseln. Abubakar Shekau, der Anführer der Gruppe, deren Name übersetzt "Westliche Bildung ist Sünde" bedeutet, verurteilte in zwei Bekennervideos, dass die Mädchen zur Schule gingen. Deshalb sollen die Schülerinnen von Chibok in die Zwangsehe verkauft werden, für umgerechnet elf Franken.

Sonder- und Kopfabgaben

Doch langsam wird klar, warum sich die Gruppe wirklich an den wehrlosen Mädchen vergriffen hat. Geflohene BewohnerInnen von Chibok und umliegenden Dörfern sind sich sicher, dass Shekau die Schule nicht angegriffen hätte, wenn Eltern, Lehrerinnen und Bewohner die von den Terroristen geforderte Steuer gezahlt hätten. "Ende März tauchten zum ersten Mal Boko-Haram-Kämpfer in unserem Dorf auf", berichtet Bukar Umar einem nigerianischen Journalisten, der anonym bleiben muss. Umar lebt in Kamuyya, einem Dorf, das knapp fünfzig Kilometer von Chibok entfernt liegt. "Sie waren bewaffnet und sagten zu uns: ‹Ihr habt zwei Monate Zeit, um 250 000  Naira Steuern zu sammeln.›" Das entspricht knapp 1400 Franken.

Kamuyya ist ein staubiger Marktflecken, hier leben Bäuerinnen, kleine Händler, Gelegenheitsarbeiter. Kaum jemand verdient mehr als ein, zwei Franken am Tag. "Wir haben das deswegen auch nicht so ernst genommen", gibt Umar zu. "Niemand hat sich wirklich angestrengt, um das Geld zu sammeln." Als die Terroristen an einem Sonntag Ende Mai wiederkamen, hatten die BewohnerInnen erst knapp 70 000  Naira zusammen. "Daraufhin haben sie ein Blutbad angerichtet." Zwanzig Menschen starben, als die Terroristen auf dem Markt das Feuer eröffneten; Dutzende wurden verletzt.

Kamuyya ist kein Einzelfall: Überall im Norden Nigerias verlangt Boko Haram Steuern. Von Muslimen verlangen sie die Sakat genannten Almosen für Bedürftige und Sonderabgaben etwa für den "heiligen Krieg". Von Andersgläubigen wie in Kamuyya oder Chibok fordern sie die Dschisya. Das ist eine Art Kopfsteuer, die schon im 7. Jahrhundert zur Zeit der Feldzüge Mohammeds erhoben wurde. Im 17. Jahrhundert verschwand diese Form der Geldeintreibung. Doch seit gut zwanzig Jahren finanzieren sich etwa die Taliban in Afghanistan damit - und jetzt auch Boko Haram in Nigeria.

Wie viel Geld die Dschisja und die Sakat genau in die Kassen der Terroristen spülen, lässt sich schwer sagen. Doch die Tatsache, dass selbst ein Bauerndorf wie Kamuyya viel aufbringen sollte, zeigt, dass insgesamt eine grosse Summe zusammenkommen muss. Dass die Dschisja von Chibok durch den Verkauf der Mädchen "beglichen" werden soll, entspricht der Logik der Gruppe. Sie will Angst säen und damit künftige SteuerzahlerInnen gefügig machen. "Ich wurde aus meinem Dorf entführt, meine Eltern und Brüder konnten fliehen", berichtet Jennifer Gyang, nachdem sie bei einer nigerianischen Hilfsorganisation Schutz gefunden hat. Die junge Frau wurde mit fünf anderen Christinnen in einem Versteck nahe der Provinzhauptstadt Maiduguri festgehalten. "Zwei Wochen lang wurden wir immer vergewaltigt - die Männer sagten uns, dass wir damit unsere Dschisja abzahlen."

PR fürs Kerngeschäft

Die Schutzgelder kann Boko Haram nur deshalb erpressen, weil die Bewegung immer mehr Land kontrolliert. Beenden könnten Polizei und Armee das Geschäft, wenn sie die Kontrolle über die Gebiete im Nordosten zurückgewännen. Ausser einer besseren Strategie und mehr Soldaten müsste dafür vor allem mehr Vertrauen in der Bevölkerung gewonnen werden - einem als korrupt und hilflos verschrienen Staat werden sich die BewohnerInnen kaum anvertrauen.

Die Verschleppung der Schulmädchen hat aber mindestens noch einen weiteren Grund. Sie schärft das Profil der Terrorgruppe für ihr millionenschweres Kerngeschäft: Entführungen. Seit Februar vergangenen Jahres haben die Terroristen Dutzende Menschen verschleppt und gegen Lösegeld wieder freigelassen - eine neue Strategie der Gruppe, die Jacob Zenn von der konservativen Forschungsinstitution Jamestown Foundation in Washington auf zwei Gründe zurückführt. Zum einen reagiere ihr Anführer Shekau darauf, dass 2012 die nigerianische Armee Frauen, Kinder und Eltern ranghoher Boko-Haram-Führer festgenommen hatte, unter ihnen auch Shekaus Frau und Kinder. Zum anderen seien nach dem Einmarsch der französischen Armee im Norden Malis im Januar 2013 Terrorkämpfer von Ansaru zurück nach Nigeria geflohen. Ansaru hatte sich zuvor von Boko Haram getrennt und Al-Kaida-Gruppen bei der Eroberung des Nordens von Mali unterstützt - Gruppen, die sich seit langem mit Entführungen finanzieren.

Vieles spricht Zenn zufolge dafür, dass Ansaru und Boko Haram danach wieder zusammenfanden. Die neue Taktik und die aus Mali mitgebrachte Ausrüstung wurden umgehend eingesetzt: Am 19. Februar 2013 entführte eine Gruppe, die vermutlich aus Mitgliedern von Boko Haram und Ansaru bestand, sieben Franzosen aus einem Nationalpark im grenznahen Kamerun. Nach Verhandlungen zwischen Shekau und der kamerunischen Regierung wurden die sieben freigelassen. Das Lösegeld soll 2,8 Millionen Franken betragen haben. Am 1. Juni entliess Boko Haram drei Geistliche aus ihrer Gewalt, zwei Italiener und eine Kanadierin. Auch für sie soll Lösegeld in Millionenhöhe geflossen sein.

Doch es sind nicht nur ausländische Regierungen, die Lösegelder an Boko Haram zahlen. Allein zwischen Februar und Juni 2013 wurden Dutzende NigerianerInnen verschleppt, unter anderem eine Gruppe von zwölf Frauen und Kindern, die in einer Polizeistation Zuflucht gesucht hatten, ein Fabrikmanager, ein Universitätsdozent, ein Zöllner und seine Familie, die Mutter eines Abgeordneten im Regionalparlament von Borno und der Vater der dortigen Frauenbeauftragten. Zenn zufolge stammen die Entführten vor allem aus mittleren Einkommensklassen, die sich keine Leibwächter leisten, aber dennoch Lösegelder von rund 10 000  Franken aufbringen können. Der prominenteste Entführte: der 92-jährige Vater eines hochrangigen Generals der nigerianischen Armee, der vor einer Moschee entführt und nach drei Tagen gegen ein Lösegeld von 285 000  Franken freigelassen wurde.

ExpertInnen sind sich einig, dass der Geldbedarf von Boko Haram in den vergangenen zwei Jahren stark gestiegen ist. "Die Tatsache, dass Boko Haram kontinuierlich neue Leute ausbilden und bezahlen, neue Ausrüstung anschaffen und sonstige Kosten decken kann, beweist, dass die Organisation in der Lage ist, sich nachhaltig zu finanzieren", sagt der nigerianische Politikwissenschaftler Nkwachukwu Orji. Zu den Finanzierungsquellen gehören ausser Löse- und Schutzgelderpressungen auch Erlöse, die mit betrügerischen E-Mails sowie mit Drogen- und Waffenschmuggel erwirtschaftet werden.

Wohin das Geld fliesst

Allein 2011 wurde die Gruppe zudem für hundert Banküberfälle verantwortlich gemacht; mehr als 5,3 Millionen Franken seien erbeutet worden. Banken sind ein perfektes Ziel: Die Überfälle lohnen sich nicht nur, sie lassen sich auch ideologisch begründen, etwa weil Banken für die im Islam verbotene Zinswirtschaft stehen. Solche Begründungen sind vor allem den Fusssoldaten wichtig, die bereit sind, ihr Leben für die angeblich hehren Ziele von Boko Haram zu opfern. "Wer an einem Banküberfall teilgenommen hat, der hat auf seinen Anteil auch noch mal Sakat gezahlt", sagte Abul Qaqa, ein Finanzmanager von Boko Haram, nach seiner Verhaftung 2012 der Polizei gegenüber aus.

ExpertInnen halten seine Aussagen für wahr. Vier Fünftel der Beute gehen ihm zufolge direkt an Abubakar Shekau, der davon mehr als die Hälfte an Hinterbliebene, Arme und Bedürftige weiterreichen soll. "Aber es hat sich niemand getraut zu fragen, wie genau das Geld ausgegeben wurde - wir hatten Todesangst." Wer für Boko Haram kämpft, wird mit nicht einmal fünfzig Franken im Monat entlohnt.

Viel Geld fliesst dagegen in Waffenkäufe. Die Verkäufer sind oftmals die angeblichen Todfeinde selbst: Anfang Juni verurteilte ein Militärgericht fünfzehn Soldaten, unter ihnen zehn Generäle, weil sie Waffen und Informationen an Boko Haram verkauft hatten. Wegen der korrupten Soldaten verfügen die Terroristen längst nicht mehr nur über alte Kalaschnikows, sondern über modernstes und schweres Kriegsgerät. Auf der anderen Seite steht eine immer demoralisiertere Armee. Für die mehr als 240 Mädchen von Chibok verheisst das nichts Gutes.

Zum Original