Neue Osnabrücker Zeitung | Wochenendjournal | 15.03.2014 Fotos: Daniel Welschenbach
Gerade hat Remy Mainaz ein paar Gratin-Happen auf einem der Teller drapiert, da piept das Funkgerät. „Absturz, Felsen, Helm, Schädel, Trümmer, Hubschrauber" schnarrt es in abgehacktem Französisch über den Empfänger: „D'accord, j'arrive" antwortet der Bergretter, wirft seine Kochschürze in die Ecke und den Auflauf zurück in den Ofen. Mit wenigen Handgriffen streift er Jacke, Rucksack, den Gurt für das Funkgerät sowie das Seil über und verlässt die Berghütte am Cime Caron auf 2660 Metern Höhe. Ski und Rettungsliege stehen parat. „Pardon, aber das muss ich alleine machen", ruft er. Die Bindungen klicken, im Nu hievt sich Mainaz vor das Rettungsgespann und schwingt den Berg hinab. Von Drinnen hört man das Schallern der Eieruhr.
Erst nach zwei Stunden kommt der zierliche Franzose zurück, das Gesicht rot vom eisigen Gegenwind, nur um die Augen zwei weiße Sonnenbrillenkreise. Schwer atmend verstaut Mainaz die Ausrüstung im Spint und klappt den Ofen im Regal auf. „Den hat's erwischt", sagt der Hobbykoch, schöpft mit einer Löffelkelle etwas Sahne über das Gratin und probiert mit der kleinen Fingerkuppe. Er meint den Skifahrer, den er eben in ein künstliches Koma versetzt hat. Mainaz arbeitet für die Pistensicherheit in Val Thorens, das als Teil der Trois Vallées zum größten Ski-Ressort der Welt gehört. Doch Leben rettet Mainaz nur in der Winterzeit.
Sechs Monate im Jahr, von November bis Mai, versorgt der 50-Jährige Ersthelfer verunglückte Brettsportler und sichert einen Teil der über 600 Pistenkilometer in den französischen Alpen. Dazu gehören Lawinensprengungen, regelmäßige Kontrollfahrten und immer wieder „Ohrenlangziehen", wie Mainaz das Schimpfen mit Pistenrüpeln nennt, die sich nicht an die Regeln halten. Die mag er gar nicht, zu oft hätten sie sich schon über seine Anweisungen hinweg gesetzt und dafür mit ihrem Leben gezahlt. Grundsätzlich schimpfe er ungern, wie er meint - und das glaubt man ihm sofort, wenn man in das Gesicht mit den kleinen Lachfalten blickt. Mainaz ist eher Einzelgänger.
Nach der Schmelze im Mai kehrt Mainaz zurück ins Tal Leschaux und treibt seine 209 Kühe auf die gepachteten Weiden. Aus ihrer Milch macht der Teilzeit-Landwirt im Sommer Käse. „Mein Tomme de Savoie liegt in jedem Kühlschrank der Region", sagt er und mogelt schmatzend ein paar Streifen auf den Auflauf. Wie viele Bewohner in den französischen Alpen wechselt er seinen Job mit den Jahreszeiten. Laut der Regierung arbeiten in der Tourismusbranche rund 100.000 Franzosen auf den Bergen, die meisten von ihnen führen das Doppelleben zwischen den Jahreszeiten. „Für mich macht's kaum einen Unterschied: im Sommer sind's die Rinder auf der Wiese, im Winter die Ausreißer auf den Pisten hier oben", sagt Mainaz.
Seit über 20 Jahren arbeitet er schon so. Eine Ausbildung habe er nie gemacht, das war für seine Generation ohnehin unüblich. Das Käsemachen war seit jeher Familiensache und für die Bergrettung habe er nur ein paar Wochen lang Kurse belegt, wie er sagt. Den Rest lerne man während des Jobs. Mainaz ist ein Feingeist. Auch am Herd fließen seine Bewegungen, ein blinder Griff ins Gewürzregal, mit dem Skischuh kehrt er sich den Mülleimer heran. Alles verläuft nach einem klaren Plan. So wie sein Leben. Sein Sohn Laurent studiert in Lyon bis er irgendwann den Milchbetrieb übernimmt; der Bruder kümmert sich um den Käse-Hof bis er im Frühjahr zurück kommt, alles ist geplant. Sogar die Einsätze im Schnee scheinen planbar. „Freitagsabends saufen die sich beim Après Ski um, Samstagmorgens haben wir also mehr Unfälle", sagt er.
Ein bisschen Heimat nimmt sich Mainaz jedes Mal mit auf die Hütte, wenn er seine Rinderdamen verlässt. Das Kochen mit den Lebensmitteln vom Hof ist seine ganzjährige Leidenschaft. Gleich kommen die Gondelführer zum Mittag in seine Bergstation. Mainaz dreht die Eieruhr noch mal zurück. „Deux Minutes, hier oben braucht's länger, niedriger Siedepunkt", sagt er. Im UKW-Radio rauscht ein Chanson von Edith Piaf, auf der Karte für die Lawinenzonen sieht man die Löcher der Einstecknadeln und über das Funkgerät hört man das Stottern der Kollegen. „Ich liebe es, allein und draußen zu sein, also habe ich die perfekten Jobs gefunden" sagt er und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Darunter blitzen Funktionswäsche und Skischuhe hervor. Allzeit bereit für das Chaos.
Pistenpflug und BadezimmerVier Hebel auf „Go", dann erstrahlt der Dorfplatz von Val Thorens im Flutlicht. Das Fahrerhaus wackelt, als der Dieselmotor des Schneepflugs anspringt. „Alors on Danse!", ruft Fahrer Philippe Viret und senkt die Schaufel der Pistenraupe ab. Dröhnend setzt sich der zwölf Tonnen schwere Koloss in Bewegung. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen über den Mon Blanc ragen, beginnt seine Frühschicht. Viret ist im Winter Herr über mehr als tausend Hektar schneebedeckter Alpen. Sie zu formen und täglich für tausende Wintersportler zu präparieren, ist seit über 30 Jahren sein Job. Die Familie sieht Viret in der Winterzeit nur an den Wochenenden, unter der Woche lebt er in einer Schneepflugfahrer-WG mit Kollegen hier oben in den Gipfeln. Sobald die schroffen Felsen im Mai unter seiner Arbeitsfläche freitauen, verlässt der 55-Jährige seine Winterheimat und zieht zurück ins Tal. Dann tauscht Viret das Cockpit gegen die Schreinerei. „Ich verbinde das Beste aus zwei Welten. Von Mai bis November forme Küchen und Bäder aus Holz, von November bis Mai sind es Landschaften aus Schnee", sagt er.
Gondel und Batida Anfänger-Pisten und Dachlatten151 Personen passen in die Gondel hoch zum Cime Caron, dem höchsten Berg in Val Thorens. „Das ist doch die ideale Disco-Dichte", sagt Quentin Lacave und drückt auf den Knopf zum Schließen der Kabinentüren. Sofort beschlagen die Scheiben vom Dunst der schwitzenden Ski- und Snowboardfahrer. Elf Meter pro Sekunde befördert die Luftseilbahn die Schnee-Enthusiasten zur Bergstation auf 3186 Metern, einer der höchsten Ausstiege in den Alpen. „Im letzten Jahr hatte eine Gruppe einen Ghettoblaster dabei, dann haben wir hier drin einen Harlem Shake gemacht", sagt der 22-Jährige und nimmt in dem Führerhäuschen Platz. Wenn Lacave die Sonnenbrille abnimmt, erscheinen um die Augen zwei weiße Kreise. Auch im Sommer pflege er diesen Look, wie er sagt. Dann arbeitet Lacave als Barkeeper 800 Kilometer weiter südlich, in einem Surfcamp am Strand von Korsika. Er wisse noch nicht so genau, ob er ein Leben lang Gondel fahren möchte, doch einem Motto möchte er stets treu bleiben: „Reisen statt Rasen - Draußen statt Drinnen".
Denis Gerber ist der perfekte Skilehrer-Stereotyp: Rot-weißer Ski-Anzug, Kinnbart, Brillant-Ohrring, sonnengegerbte Haut, windschnittige Sonnenbrille und darüber ein weißes Stirnband. Beim Gespräch im Lift zündet er sich eine Zigarette an und lässt sie bei jedem Wort im Mundwinkel mitwippen, sodass er nicht abaschen muss und die Handschuhe direkt wieder anziehen kann. „Da unter uns, da bin ich am liebsten, die Damen fahren dort besonders langsam, es gibt viel zu gucken und zu helfen", sagt er und zeigt auf die flache Anfängerpiste. Gerber kennt sich auf den über 600 Pistenkilometern bestens aus. Bei der Abfahrt hebt er ständig den Skistock zum Gruß der Saison-Kollegen. Gerber kennt hier jeden. Seit 27 Jahren kommt er nach Val Thorens, das auf 2300 Metern Höhe zwischen drei Gletschern als besonders schneesicher gilt. „Für den Sommer habe ich mal meinen Bauzeichner gemacht, aber ich saß noch nie in einem Büro.", sagt er. Stattdessen verdiene er in den warmen Monaten sein Geld auf dem Bau, als Zimmermann oder Dachdecker. Hauptsache draußen.