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Alle paar Stunden ein Menschenleben

Dieses Jahr sind mindestens 1864 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken oder gelten als vermisst. Eine Rekonstruktion des alltäglichen Kampfs ums Überleben.

Von Magdalena Pulz, Nadja Schlüter, Raphael Weiss, Sophie Aschenbrenner und Federico Delfrati

Fortress Europe - die Festung Europa - wird die Europäische Union manchmal genannt, unser Staatenbund mit Friedensnobelpreis.

Vor dieser Festung liegt ein „liquid graveyard" ein flüssiger Friedhof, so drückte es ein Seenotrettungsaktivist im November aus. Der Friedhof ist das Mittelmeer, und die Leichen vor der Festung sind nicht die einer feindseligen Armee - sondern die von Menschen auf der Flucht vor Gewalt, Armut, Unrecht und Unfreiheit.

Im vergangenen Jahr sind der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge mindestens 1864 Menschen im Mittelmeer umgekommen oder verschwunden, über 200 Personen mehr als 2020.

Verschwunden - das klingt mysteriös, bedeutet jedoch im Normalfall, dass die Leichen nicht geborgen wurden, weil sie auf hoher See nicht lokalisiert werden konnten. 1864 Menschen, das bedeutet auch, dass auf der Mittelmeerroute im Schnitt alle sechs Stunden jemand stirbt. Und da sind die etwa 1000 weiteren Menschen, die in diesem Jahr bei dem Versuch, die EU über die Atlantik-Route zu erreichen, gestorben sind, nicht einmal eingerechnet. Die Dunkelziffer ist sowohl auf dem Mittelmeer als auch auf dem Atlantik noch viel höher.

Die EU hat keine eigenen Rettungsschiffe, die die Wasserrouten überwachen, um das Massensterben zu beenden. Dafür hat sie in der vergangenen Dekade Hunderte Millionen Euro in militärische Technologien wie Drohnen investiert, die dazu beitragen, Geflüchtete aufzuhalten. Auch die sogenannte libysche Küstenwache wird von der EU durch Geld und Ausrüstung unterstützt. Diese soll die Geflüchteten, die eben meistens aus dem Bürgerkriegsland Libyen aufbrechen, einfangen und zurückbringen. Etwa 30 000 Menschen sind der IOM zufolge 2021 in sogenannten Pullback-Aktionen zurückgeholt worden, dreimal so viele wie noch im Jahr zuvor. In Libyen landen die Geflüchteten zu Tausenden in Lagern, in denen sie in menschenunwürdigen Zuständen leben und hungern. Wenn sie können, flüchten sie deswegen wieder, wagen sich wieder aufs Meer und in Richtung Europa, bis sie es schaffen - oder sterben.

Was die Geflüchteten auf dem Meer im Kampf ums Überleben durchmachen, ist kaum vorstellbar. Zusammengepfercht auf nicht seetauglichen Holz- und Gummibooten, manchmal tagelang ohne Wasser und Essen, in Stürmen und Regen. Dass auf dieser Reise nicht noch viel mehr Menschen sterben, ist privaten Rettungsorganisationen zu verdanken: Sea-Watch, Sea-Eye, SOS Méditerranée, Alarmphone und vielen mehr.

Wir haben diese Arbeit der zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter im Jahr 2021 rekonstruiert und uns dabei auf das zentrale Mittelmeer konzentriert. Dafür haben wir die Aufzeichnungen von NGOs aus ganz Europa angefragt, mit Mitarbeitenden gesprochen, Medienberichte, Pressemitteilungen und Twitter-Feeds ausgewertet und Behörden gefragt. In manchen Fällen mussten wir uns auf die Beobachtungen der Seenotretterinnen und Seenotretter verlassen, ohne die Information über eine zweite Quelle verifizieren zu können.

Eine solche Chronologie kann nicht vollständig sein. Insgesamt ist davon auszugehen, dass nicht alle Seenotfälle bekannt werden und dass bei weitem nicht alle Menschen, die im Mittelmeer sterben, entdeckt werden. Trotzdem zeigt dieses Projekt vor allem eines: Hinter der Zahl stecken verlorene Leben - und ohne die zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter wäre sie noch viel höher.


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