Heidi Vormann befindet sich in einem Wettlauf. Lange innezuhalten wäre heikel. Ihr Gegner ist das Wetter, ist die Witterung. Ein Brocken aus Sandstein steht auf Vormanns Büroregal - er erinnert sie jeden Tag an den kraftvollen Gegner, denn der Stein ist aufgeraut von Stürmen, von Hitze und Kälte. Diese Kräfte nagen unaufhörlich am Ulmer Münster. Hier hat Heidi Vormann seit einem Jahr das Amt der Münsterbaumeisterin inne. Es ist ein Amt, das auf Lebenszeit vergeben wird, die Aufgabe, die mit ihm verbunden ist, ist jedoch eine, die kein Mensch je zu Ende bringen kann. Weil die Aufgabe die wenigen Jahrzehnte, die einem Menschen neben dem Münster gegeben sind, sprengt. Die Kirche will ganz unschwäbisch scheinbar nur eines sein: ein Superlativ. Sie ist die größte evangelische Kirche Deutschlands, wurde in rund 200 Jahren gebaut. Das Münster besitzt den höchsten Kirchturm der Welt: Es sind 161,53 Meter, die so filigran wirken, als habe sie ein Künstler aus Holz gedrechselt. Immer wieder stürzen schwere Bruchteile von dort nach unten. Im Jahr 2003 durchschlug einer der Brocken das Vordach des Münsterbauamts, das sich direkt neben der Kirche befindet.
Auch jetzt säumen im Hof des Münsterbauamts Steinblöcke den Weg zwischen der vorgelagerten Pforte und dem eigentlichen Eingang. Teils liegen sie aufgereiht auf stählernen Gerüsten, teils sind sie mit Nummern versehen. Es gebe unglaublich viele Anfragen von Menschen aus , die sich gerne einen solchen Stein in die Wohnung oder in den Garten stellen würden, erzählt Heidi Vormann im Vorbeigehen. So groß ist die Verbundenheit mit dem Münster hier in der Stadt. Die meisten der Steine warten aber darauf, von den Steinmetzen der Bauhütte geformt zu werden.
Vormann ist fasziniert von dieser Arbeit. "Was die aus diesem harten Klotz herausarbeiten, da ziehe ich jeden Tag meinen Hut." Auch sie selbst hat es schon probiert, so recht wollte sich der Stein aber nicht von ihr bearbeiten lassen. Dabei ist sie keine, die Angst hat, sich beim Zupacken einen Fingernagel abzubrechen. Sie formt stattdessen auf ihre Art, erstellt Pläne, gibt die Richtung vor. Was Vormann sagt, meint sie so, auch wenn ihr Fränggisch die Wordde waichzaichned.
Ursprünglich stammt sie aus Bamberg. Schon in ihrer Kindheit nimmt sie der Vater, ein Maurer, mit auf Baustellen. Zu Hause sieht sie damals, wie er zeichnet und beobachtet, wie seine Häuser wachsen, fertig werden. Der Geruch einer Baustelle zieht sie schon früh an: Beton, Mörtel und frisches Holz. "Das ist wie Parfum", sagt Vormann.
Mit 15 sitzt sie neben ihrem Chef im Auto. Sie macht damals eine Ausbildung zur Bauzeichnerin in einem Architekturbüro in Bamberg. Als er Heidi fragt, wo sie sich in einigen Jahren sieht, antwortet sie, ohne zu zögern, dass sie Architektin werden wolle. Der Chef fängt lauthals an zu lachen. Vielleicht habe sie dieses Lachen auch angespornt, meint Vormann. Später wird sie in Coburg und in ihrer Heimatstadt Bamberg Architektur studieren und an der TU Braunschweig promovieren. Schließlich eröffnet Heidi Vormann ihr eigenes Architekturbüro in Bamberg, spezialisiert sich auf Denkmalpflege und ist in der Stadt für die Kirche als Dekanatsarchitektin tätig, was ihr Spaß machte, wie sie sagt. Durch eine Onlineplattform, auf der sie nach einer Professorenstelle sucht, wird sie dann jedoch auf die Ausschreibung des Amts in Ulm aufmerksam. Einer Stadt, mit der Heidi Vormann bis zu diesem Zeitpunkt kaum Berührungspunkte hat. Doch das mit der Bewerbung am Münster habe sie einfach probieren müssen, erzählt die Baumeisterin. Das Amt sei wie eine Art Adelstitel. Auch wenn der nicht nur angenehme Seiten mit sich bringt: administrative Aufgaben zum Beispiel. Heidi Vormann repräsentiert das Münster auch nach außen, kooperiert mit anderen Bauhütten und kümmert sich um die Belange ihrer Mitarbeiter. Den wichtigsten Teil ihrer Arbeit bildet aber der Umgang mit restauratorischen und bautechnischen Fragen - denn an der Kirche wird beständig gearbeitet.
Vormann spürt die VerantwortungDer Baumeisterin bleibt jedoch weniger Zeit als ihren 21 Amtsvorgängern und -vorgängerinnen. Die Klimabedingungen sind andere als vor einigen Jahrzehnten oder gar zur Erbauungszeit der Kirche. Früher war es kühler, trockener - und wenn es regnete, dann nicht in dem Ausmaß wie heute. Damals wurde das Gebäude hauptsächlich als Gotteshaus genutzt, heute ist es dagegen überwiegend Besichtigungsobjekt - und die vielen Besucher bringen eine Menge Feuchtigkeit ins Innere. Das alles verändert die Schäden am Münster, lässt sie schneller und in größerem Umfang auftreten. Zuletzt seien drei Orkane kurz hintereinander über das Münster gefegt. "Diese Stürme hatten wir noch nie", erzählt Vormann. Das Wetter macht eine neue Dachkonstruktion mit verklammerten Ziegeln nötig. Ins Innere der Kirche dringt dagegen mehr Feuchtigkeit, und diese findet keinen Weg durch die massiven Wände wieder heraus. Wachsam muss deshalb beobachtet werden, ob Schimmel an seinen bevorzugten Plätzen wie Gemälden, Altären, Orgeln oder dem Chorgestühl entlangkriecht.
Das alles könnte Vormann niemals allein im Blick behalten. Hinter ihr steht ein Team aus etwa 25 Steinmetzen, Restauratoren, Schreinern und anderen Handwerkern, die derzeit an der Bauhütte arbeiten. Anfangs hat es viel geknirscht zwischen ihnen und der neuen Chefin. Man musste sich erst mal kennenlernen. Langsam wächst das Team aber doch zusammen "Man kann auch streiten, da kann's auch knallen, das macht überhaupt nichts. Das ist wie in einer Familie", sagt Heidi Vormann. Vor allem in den ersten Monaten sei es aber manchmal ein "O Gott, was will die jetzt wieder"-Gefühl gewesen, das ihr entgegenschlug, sagt Vormann. Denn die Frau mit der massiven stahlgrauen Brille stellt vieles um und infrage. Gerümpel steht in abgelegenen Kirchenwinkeln? Raus damit. Ungenügender Brandschutz im Keller? Vorerst keine Führungen mehr dort! Mängel bei der Sicherheit der Steinmetze? Da muss man das Team sensibilisieren für Absauggeräte, Helme und Spezialschuhe. "Ich bin ein Sicherheitsmensch", sagt Heidi Vormann. Vor vielen Jahren besuchte ein Bekannter Vormanns eine Baustelle mit einigen Kollegen - es war dunkel, man konnte schlecht sehen. Einer der Männer stürzte, fiel ein Stockwerk tief in den Keller und starb. "Wenn ich alles getan habe und es passiert trotzdem etwas", sagt Vormann und schlägt mit der Hand auf den Tisch vor sich, "da kannst du dann einfach nix machen. Aber wenn ich nicht alle Dinge getan hab für die Sicherheit meiner Mitarbeiter, das würde ich mir nicht verzeihen." Vormann spürt die Verantwortung für ihre Kollegen, was die Sicherheit der Baustelle Ulmer Münster betrifft, sie versucht aber, das nicht jeden Tag an sich heranzulassen.