Es ist ein Problem, das fast alle einmal betrifft und über das fast keiner sprechen möchte: zu wenig Sex. Philosoph Wilhelm Schmid will das ändern und hat dafür einen neuen Begriff geschaffen: Sexout.
Das Gegenteil, das thematisiert man gern: Wer frisch verliebt ist, gibt gern mal damit, gar nicht aus dem Bett rauszukommen, da werden Witzchen und neckische Andeutungen gemacht. Sex, Sex, Sex ist überall ein Thema, in Frauenzeitschriften, Musikvideos, als Leitmotiv für Werbekampagnen. Was nicht so, ja, sexy ist: keinen Sex zu haben. Zu wenig Sex zu haben. Und vor allem: Damit unzufrieden zu sein, weil die Enthaltsamkeit eben nicht selbst gewählt ist.
Fast jeder erlebt einmal diese Flaute-Phasen, Singles und Paare, Alt und Jung, Männer wie Frauen. Wenn bei beiden Partnern die Lust am Sex nachlässt, ist damit noch leichter umzugehen. Doch meistens ist einer eben nicht einverstanden mit der Lustlosigkeit im Bett - ist aber machtlos, weil schließlich der, der weniger will, automatisch die Frequenz bestimmt.
Wer Sex will, aber keinen bekommt, erlebt einen „Sexout" - diesen Begriff hat der Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid eingeführt. „Sexualität war lange ein Tabuthema und wurde dann das Gegenteil", sagt er über die gesellschaftliche Überbetonung von Sex. Und schätzt, dass etwa 80 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen darunter leiden, zu wenig Sex zu haben. Schmid hat einen Ratgeber geschrieben, um das zu ändern und gibt Tipps, was man gegen ein Sexout tun kann.
ICONIST: Ist ein Sexout nicht etwas, was normal ist in einer Beziehung und immer mal wieder auftritt?
Schmid: Ich habe nicht mit Willkür diesen Begriff geschaffen, sondern ich habe mit vielen Menschen über Jahre hinweg geredet. Da fiel mir auf, dass dieses Problem eine sehr große Rolle in vielen Beziehungen spielt, und ich dachte: Wir sollten mal einen knackigen Begriff dafür haben. Auch, um diskutieren zu können, ob wir es mit den sexuellen Erwartungen übertrieben haben. Ist es nicht normal, dass es in einer Beziehung unterschiedliche Auffassungen zu eigentlich allem gibt? Und eben auch zur Sexualität. Wenn wir das anerkennen, dann können wir auch besser darüber sprechen und Kompromisse finden.
ICONIST: Trifft ein Sexout jedes Paar einmal?
Schmid: Ja, fast jedes Paar. Und zwar ungefähr nach einem halben Jahr. In der Verliebtheit wollen beide alles. Und danach gibt es dann unterschiedliche Auffassungen.
ICONIST: Ab wann hat man einen Sexout? Nach einigen Wochen oder Monaten?
Schmid: Auch nach fünf Stunden. Derjenige, der einen Bedarf hat, empfindet jede Verzögerung als Sexout. Da kann es um Stunden gehen. In der Regel geht es dabei um Tage, häufig geht es um Wochen, nicht ganz selten geht es um Monate und in seltenen Fällen geht es sogar um Jahre. Ich habe von einem Paar erfahren, das 17 Jahre verheiratet war und keinen Sex hatte. Am Anfang hatten sie Sex. Dann hatten beide weiterhin ein Bedürfnis danach, allerdings den Eindruck, der andere möchte keinen Sex. Deshalb wollten sie den anderen nicht unter Druck setzen und haben nie darüber gesprochen.
ICONIST: Es gibt verschiedene Ursachen für die Lustlosigkeit. Aber was sind die häufigsten?
Schmid: Die häufigsten sind heute sicherlich: Überlastung im Beruf oder im Haushalt, die Vordringlichkeit der Kinder. Das ist bei sehr vielen Paaren so, wenn die Kinder kommen, verliert mindestens einer komplett die Lust. Generell scheint es eine Entwicklung hin zur Asexualität zu geben. Scheint sage ich deswegen, weil es dazu keine Vergleichszahlen gibt.
ICONIST: Zwischen den Geschlechtern gibt es mehr Gleichberechtigung denn je. Trotzdem gibt es immer größere Unterschiede zwischen den Partnern.
Schmid: Das Problem ist, dass Gleichheit in Rechten und Menschenwürde verwechselt worden ist mit der Gleichheit in Eigenschaften. Immer mehr Paare versuchen, die Unterschiede zwischen ihnen zu leugnen. Und das hat schlimme Konsequenzen. Denn damit entsteht auch keine Spannung mehr zwischen ihnen. Sie wollen entspannt zusammenleben. Aber wenn die Entspannung zu groß ist, gibt es auch keinen sexuellen Impuls mehr. Dann liegen beide nur noch vorm Fernseher und können sich nicht mehr zu größeren Taten aufraffen. Wenn beide damit zufrieden sind, kein Problem. Aber: Unterschiede gibt es ja doch. Die werden jetzt aber als schrecklich empfunden und stellen gleich die ganze Beziehung infrage.
ICONIST: Ist das ein neuer Trend, dass man Unterschiede heute anders wahrnimmt als vielleicht noch vor 20 Jahren?
Schmid: Ja, absolut. Noch vor drei, vier Jahrzehnten wurde nichts als Unterschiede zwischen den Geschlechtern gesehen. Nicht nur in Rechten und Menschenwürde, sondern auch in sämtlichen Eigenschaften gab es nur Unterschiede. Die Reaktion darauf war, das genaue Gegenteil anzunehmen: Es gebe keine Unterschiede. Ich schlage vor, wir kehren nicht zum vorherigen Zustand zurück, sondern wir nehmen mal an, es gibt doch ein paar Unterschiede. Alle Paare wissen das im Grunde. Egal um welche Entscheidung es geht, sie haben gegensätzliche Auffassungen, zum Beispiel wohin man in den Urlaub fahren soll.
ICONIST: Sie schreiben, dass gegenseitiges Verständnis wichtig ist. Aber ist das nicht generell die Lösung für jedes Problem, auch abseits von Sexout?
Schmid: Klar, Sexout ist ja nur ein Problem. Ich möchte aber sagen: ein Schlüsselproblem. Umfragen zeigen, dass sexuelle Unzufriedenheit die größte Quelle für Unzufriedenheit in der Beziehung ist. Wo können wir am besten lernen Verständnis füreinander zu haben? Eben bei diesem Schlüsselproblem. Und was können wir dafür am besten tun? Versuchen, uns in die Lage des anderen zu versetzen. Mir vorzustellen, ich bin jetzt eine Frau. Wie sieht mein Alltag, wie sehen meine Gefühle aus ihrer Sicht aus? Was muss sie alles aushalten im Unterschied zu mir? Dann wird mir möglicherweise klar: Sie hat so viel Druck, dass sie den Kopf nicht freibekommt. Es scheint so zu sein, dass Frauen den Kopf freihaben müssen für Sex, während Männer den Kopf durch Sex freibekommen.
ICONIST: Typisches Beispiel: Er hat Lust, sie aber nicht. Was kann man dann tun?
Schmid: Es gibt nicht eine Lösung. Wählen Sie die Möglichkeit, die für Sie am besten gangbar ist. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel eine feste Verabredung zum Sex. Dann können beide sich darauf einstellen und sich vorbereiten.
ICONIST: Was kann man noch tun?
Schmid: Sich überlegen, wie man das Vorspiel und den Sex selbst so attraktiv macht, dass es dem Partner schwerfällt, nein zu sagen. Ich kann auch den, der jetzt nicht möchte, fragen: Kann ich darauf hoffen, dass wir in den nächsten Tagen mal zusammenkommen?
ICONIST: Setzt das aber nicht den Partner unter Druck?
Schmid: Eine vierte Möglichkeit ist, vollkommen auf Sex zu verzichten und das komplette sexuelle Bedürfnis in die Arbeit zu stecken. Dann ist der Druck ganz weg. Eine fünfte Möglichkeit: Ich suche mir den Sex woanders. Eine sechste Möglichkeit ist, ich schlage mir den Sex aus dem Kopf. Das sind sechs Möglichkeiten mit dem Sexout umzugehen.
ICONIST: Brauchen wir vielleicht keinen echten Sex mehr, weil es genügend Optionen im Internet gibt, die sogar einfacher sind?
Schmid: Wer es mag, soll das tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das dauerhaft befriedigend ist. Das heizt die Lust eher noch stärker an.
ICONIST: Warum ist Sex nicht gleich Sex und muss nach Ihrer Aussage gelernt sein?
Schmid: Unsere Gesellschaft ist nicht aufgeklärt. Zum Beispiel wissen viele Männer wie auch Frauen von den anatomischen Gegebenheiten ihres Gegenübers so gut wie gar nichts. Diese Kenntnisse sind aber wichtig, um den Körper des anderen wie ein Instrument bespielen zu können. Männer sollten wissen, was eine Klitoris ist und wohin sie sich erstrecken kann. Das ist nämlich von Frau zu Frau sehr unterschiedlich und lässt sich nur durch experimentelles Vorgehen erschließen. Sehr wenige Männer wissen, dass die Mehrzahl der Frauen keinen vaginalen Orgasmus haben kann. Sie arbeiten in der Vagina rum und wundern sich, warum sich nichts tut. Und sind entweder ihrer Partnerin oder sich selbst böse, weil sie es nicht bringen - statt sich kundig zu machen und es dann auch zu erproben, welche Rolle die Klitoris beim Orgasmus der Frau spielt.
ICONIST: Sex spielt eine große Rolle in der Gesellschaft. Wird man durch einen Sexout gar zum Außenseiter in der Gesellschaft?
Schmid: Sexout ist bisher kein Thema. Das ist nun der Versuch, das zum Thema zu machen. Bisher ist ja nur Sex ein Thema. Nicht der Sexout. Meine Hoffnung ist, dass es doch gelingt, das zu thematisieren und Menschen zu ermutigen, auch darüber zu sprechen.
ICONIST: Ist Sexout eigentlich eine Frage des Alters?
Schmid: Nein. Da bin ich ganz sicher, weil ich mit allen Altersstufen Gespräche geführt habe. Das ist eine Frage, die sich nach der Verliebtheit stellt. Von 16 bis 96 Jahren sind alle gleichermaßen betroffen.
ICONIST: Wir haben viel über Paare gesprochen. Kann man einen Sexout auch als Single bekommen?
Schmid: Die meisten Singles leiden unter Sexout. Sie versuchen ihn anzugehen durch häufig wechselnde Partner. Aber es gibt das blöde Phänomen, dass es sexuelle Erfüllung eher in länger währenden Beziehungen gibt. Nur in längeren Beziehungen kenne ich den anderen sehr gut und kann deswegen auch sehr gut auf ihn eingehen. Die große Schwierigkeit beim Sex ist ja eigentlich nicht der Sex selbst, sondern die Minuten, Stunden danach.
ICONIST: Warum?
Schmid: Weil der Sex der Himmel ist, und dann ist der Himmel wieder zu Ende. Die Situation will erst einmal bewältigt werden. Vorher war der andere scharf auf mich, jetzt ist er es nicht mehr. Jetzt ist er erschöpft und will von mir gar nichts mehr wissen. Warum sonst gehen One-Night-Stands vor dem Frühstück?
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