„Anzahl der Toten durch Schusswaffen in den USA ist höher als Zahl von Kriegsopfern“ – titelte das Online-Magazin jetzt.de vor zwei Jahren und thematisierte eine Ergebung, nach der zwischen 1968 bis 2015, also: innerhalb von 47 Jahren 1.516.863 US-Bürger durch den privaten Gebrauch von Schusswaffen ums Leben kamen. In Kriegen starben seit 1775 bis 2015, also: innerhalb von 240 Jahren 1.396.733 US-Bürger – das sind 120.130 weniger.
Pearl schmiert sich gerade ein paar Brote mit Erdnussbutter und Heidelbeermarmelade, als die Reporterin durch das Fenster guckt.
Wie
die vielen anderen Neugierigen auch, war die Frau am Fluss gewesen,
um sich die siamesischen Zwillingsalligatoren anzusehen, die dort aus
einem Ei geschlüpft und von Pearls Freundin April May entdeckt
worden waren.
Vier Beine, zwei Köpfe, eine Sensation. Darum waren sie von überall her zu ihnen an den Fluss gekommen, die Reporter mit ihren Mikrofonen, und Kameras, und Übertragungswagen. Die Aufregung um die zusammengewachsenen Alligatoren versteht Pearl nicht. Denn jedes Kind weiß, wie das passieren konnte. Zumindest jedes Kind, das im Indian Waters Trailerpark lebt. Und das sind genau zwei: Pearl und April May.
Pearl lebt in einem Auto, seitdem sie auf der Welt ist, zwischen einer giftigen Müllhalde und einem vergifteten Fluss, irgendwo im Nirgendwo von Florida, mit ihrer Mutter Margot. Pearl schläft vorn, Margot hinten. Pearl ist glücklich. Sie fürchtet sich vor nichts. Bis zu dem Tag, an dem Eli auftaucht und behauptet: ohne Waffe sind Margot und sie nicht mehr sicher…
„Gun Love“ heißt der neue Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Clement. Darin lässt Pearl aus der Ich-Perspektive die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens Revue passieren. Ein Leben, das sie in zwei Teile teilt: in das Leben vor dem Auftauchen von Eli Redmond, und in das Leben danach; in das Leben ohne die Schusswaffen, und in das Leben mit ihnen. In das Leben mit ihrer Mutter im Auto, und in das Leben ohne sie.
Knapp zwanzig Wohnwagenplätze zählt der Park, nur vier sind belegt: da leben ein alleinstehender Pastor, eine Biologin mit ihrer erwachsenen Tochter, April May und ihre Eltern und ein Paar aus Mexiko. Wenn Pearl in die Schule geht, arbeitet ihre Mutter als Putzfrau in einem Krankenhaus. Wenn ihnen langweilig ist, erzählen sie sich Geschichten. Margot erzählt dann von ihrer Kindheit, dass sie ausgerissen ist, als sie fast siebzehn war, wie sie einsam in der Badewanne Mutter wurde, und, dass Pearl schon als Baby blass wie eine Perle war…
Es hätte alles so bleiben sollen.
Pearls Mutter hat keine Waffe – bis Eli Redmond aufkreuzt und das ändert.
Eli ist Margots neuer Freund. Margot ist ihm sofort verfallen. Denn Margot liebt jeden. Egal wie schmutzig, kopflos oder kriminell jemand ist. Margot sieht immer das Gute in einem. Auch in Eli. Als er ihr eine Pistole schenkt, nimmt sie es hin. Und Pearl versteht nicht, warum. Weil ein Auto für drei Menschen zu klein ist, sucht Pearl sich ein Versteck in einem der leerstehenden Wohnwagen auf dem Gelände. Dort macht sie Hausaufgaben, und träumt sich weg. Aber ausgerechnet dieser Wohnwagen ist schon „besetzt“. Da liegen plötzlich Waffen herum, eingewickelt in Zeitungspapier. Sie hat ein Lager entdeckt. Wem es wohl gehört? Vielleicht Eli, oder dem Pastor, oder April Mays Eltern? Als Pearl erfährt, wem das Lager gehört, staunt sie nicht schlecht. Und obwohl sie noch ein Kind ist, weiß sie, sie hat nur eine Wahl: wegrennen oder mitspielen. Pearl spielt mit, denn sie weiß auch: Entweder stehst du vor der Waffe, oder du hältst sie.
„Gun Love“ von Jennifer Clement, aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, erschienen bei Suhrkamp, gebundene Ausgabe: 22 EUR, eBook: 18,99 EUR, Hörbuch, gelesen von Edith Stehfest: 17,95 EUR, 5 CDs, erschienen bei BUCHFUNK, VÖ: 10. Sept. 2018
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