Einmal im Monat öffnet sich im kleinen Theater "Verlängertes Wohnzimmer" in Berlin die Bühne für allerlei dahergelaufene Kleinkünstler und Alleinunterhalter. Das ist manchmal lustig, manchmal eher peinlich. Lydia Herms war mit dem Mikrofon dabei.
SWR2 Matinee, 16.09.2018
Vielleicht dreißig Menschen sind sich an einem Dienstagabend gegen 21:30 Uhr in einem kleinen privaten Theater in Berlin-Friedrichshain einig: Sie wollen noch nicht nach Hause. Nicht etwa, weil sie kein Zuhause haben, oder weil man sie zwingt, für immer auf den mit rotem Stoff bezogenen Wartezimmerstühlen sitzen zu bleiben – sondern aus freien Stücken. Sie wohnen einer Veranstaltung bei, von der sie beim Kauf ihrer Eintrittskarten keine klare Vorstellung hatten. Sie wussten nur: Alles ist möglich. Weinen. Lachen. Schämen.
(Eva
Wunderbar auf der Bühne) „Ich
bin gespannt. Er braucht zwei Mikros. […] Der letzte Applaus des
heutigen Abends, hier ist für euch Dwike, viel Spaß!“ (Applaus
& Ukulele, Gesang
von Dwike)
Ein Halbgott in Pumphose, Unterhemd und Schnurrbart steht mit geschlossenen Augen auf der winzigen Bühne des Theaters. Er singt sich die Seele aus dem Leib und die goldene Deko von den Wänden. Unerheblich für den Moment ist, dass da nur dreißig Menschen vor ihm sitzen, dass er keine Gage für sein Ukulelenbrett erhält, dass überhaupt niemand in dem Theater an dem Abend Geld sieht, abgesehen von den beiden Schauspielerinnen, die „Tresenschicht“ schieben. Für die Biere, die sie verkaufen. (letzte Akkorde, ein, zwei Takte Gesang)
Sieben Minuten Verausgabung – dann ist alles vorbei. (herrlicher Applaus, Gejohle)
Dwike heißt eigentlich Dirk. Und Dirk liebt die Bühne. Unter seinem bürgerlichen Namen hat er Theater gespielt und deutschsprachige Popsongs veröffentlicht. Das liegt hinter ihm. Sein neues musikalisches Ich ist Dwike. Und weil das noch keiner kennt, ist er hier, im Offenen Wohnzimmer.
(Dwike im Gespräch)
„Also, die offenen Bühnen sind für mich wie so’n Reagenzglas, um zu
gucken, funktioniert es mit Gitarre?, die habe ich jetzt schon
eigentlich abgehakt, mit der Ukulele funktioniert’s erstaunlich gut.
Das ist jetzt die dritte offene Bühne, die ich spiele, und das ist für mich so’n Testballon.“
(knarrender Bühnenboden, Eva) „Kai?“ – „Ja?“ – Wollen wir irgendwann Soundcheck machen, oder so? – „Ja.“ (Gitarre wird gestimmt)
Das Offene Wohnzimmer ist die offene Bühne – auf Englisch: Open Stage – des Berliner Theaters Verlängertes Wohnzimmer. Einmal im Monat ist die Bühne offen für alle, die sich berufen fühlen, sieben Minuten lang etwas darzubieten. Musik, einstimmig, mehrstimmig, StandUp, Zauberei, Artistik – die Besucher erwartet ein Laienprogramm, das selbst die Moderatorin der Open Stage, Eva Wunderbar, bis zum letzten Applaus nicht kennt.
(Eva Wunderbar im Gespräch) „Wenn ich’ne superkrasse Show sehen möchte, gehe ich zu einer einstudierten Varieté-Show, so. […] Das ist ja auch der Reiz daran, dass man vielleicht nicht das polierte Material aus’m Fernsehen sieht, sondern eben rohes Material, was vielleicht auch nicht klappt, kann passieren […]. Eine awkward person gibt’s immer. Manchmal auch mehrere an einem Abend (lacht), da hat man dann Glück gehabt. Es ist halt jedesmal eine Überraschung. Ich weiß ja auch nicht immer, was kommt.“ (lacht)
An diesem Abend gibt es insgesamt zwölf potentielle awkward persons, in neun Darbietungen. An Dwike ging der Kelch der Scham vorüber – sieht man von seiner Zwischenmoderation ab, in der er dem Tontechniker den running gag der kommenden einhundert Shows beschert. (Musik ausblenden, Applaus einblenden)
(Dwike auf der Bühne) „So, äh, aber, hey, hey, du, in dieser Box, du netter Toni, wie heißt er?, Kai! (Publikum lacht) Kai, der Toni. Kai, kannst du mir bitte jetzt für das nächste Lied so’ne schöne Extraportion Soße Hall reinschmier’n? Danke.“ (Lachen)
(Dwike im Gespräch) „Also, die erste offene Bühne, die ich gemacht hab’, mit’nem Halbplayback, ging komplett in die Hose. Da hab’ ich wirklich gemerkt: Okay, ich steh’ da oben und da springt kein Funke über […] hm, deswegen sind das ja nur sieben Minuten, also, wenn man sich da schämt, mein Gott!“ (lacht, Eva live einblenden)
„[…] ich weiß nicht genau, was er macht, er konnte mir das auch nicht sagen. (Lachen) Vielleicht überlegt er sich das noch, in der Zeit, wo er hier auf die Bühne kommt. Hier ist für euch Marc Adams!“ (Applaus)
(Marc Adams auf der Bühne) „Äh, ich bin zu 18% Australier – und der Rest ist Wasser.“ (Stille)
Ein schmaler Mann mit Seitenscheitel und Hemd in der Hose steht auf der Bühne. Seine Stimme bricht hin und wieder, einzelne Sätze bröckeln wie ungewollt aus ihm heraus, vor ihm ein nachlässig an den Bühnenrand geworfener Rucksack. Kein Mucks ist zu vernehmen. Dann behauptet er, nebenberuflich für die Jugendzeitschrift BRAVO zu schreiben – und das Publikum liegt ihm zu Füßen.
(Marc Adams auf der Bühne) „Und, äh, ich würde da gern was draus vorlesen…“
Die Idee mit dem Rucksack und der BRAVO sei neu, erzählt Marc Adams, der mit bürgerlichem Namen anders heißt und auch was anderes macht. Seit ungefähr acht Jahren bringt er auf Bühnen Menschen zum Lachen. Als Alleinunterhalter. Wobei er sich so nicht nennt, noch nie genannt hat. Besser sei: Comedy Performer.
(Marc Adams im Gespräch) „Ich glaub’ nich’, also, dass ich mich allein fühl’, weil das Publikum ist ja da, man ist so mittendrin. Nee, auf der Bühne fühle ich mich nicht allein, eher eigentlich privat, gibt’s mehr Momente, wo ich mich allein fühle.“
(Gesang, Musik im Hintergrund) Ein A Capella-Trio intoniert Texte von Ringelnatz. Ein Jongleur fordert versehentlich ins Publikum gerollte Bälle brüllend zurück, weil er sonst nicht weitermachen könne. Ein Liedermacher lässt die Stimme von Rio Reiser aufleben. Eine Laute klagt lieblich die letzten Worte eines zum Tode Verurteilten. Eine Artistin verheddert sich im Trapez hängend in ihr Mikrofonkabel und verliert dabei kiloweise Kopfkissenfedern. Ein bayrisches Original aus Berlin-Neukölln beklagt sich im Bademantel über die Unsitte, auf Partys betrunken Menschen an die frisch rasierte Glatze zu tatschen. (Lachen)
(Dave Intschi auf der Bühne) „Du willst nicht schlafen mit dem Urin anderer Leute auf deinem Kopf. Du willst nicht enden wie die Erdnuss auf RTL.“ (Lachen)
Jeder Auftritt ist besonders. Einige sind perfekt, andere sind es nicht. Genau das mache die offenen Bühnen aus, erklärt Benjamin, ein Gast aus der ersten Reihe.
(Gast Benjamin) „Perfekt ist langweilig.“ (im Hintergrund singen Eva und Publikum)
Der Besuch einer offenen Bühne ist mehr als bloße Unterhaltung oder ein Kitzel des Fremdschämens. Der Besuch steigert das Selbstwertempfinden. Es ist okay, etwas zu riskieren. Und er verbindet, wie Eva Wunderbar eindrücklich beweist, als sie selbst zur Gitarre greift und spontan das Publikum zum Chor formiert…
„[…] dass ich nie wieder was versäume. Dada daada, dada daadaaa.“ (Applaus)
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