Geistergeschäfte sollen Leben in kleine Gemeinden und Regionales in die Einkaufskörbe bringen. Werden sie die Nahversorgung und ganze Dörfer retten können?
(erschienen am 3.6.2022)
Auf den ersten Blick wirkt Dorf an der Pram wie eine ziemlich gewöhnliche Ortschaft. Knapp mehr als tausend Einwohner hat die Gemeinde im Innviertel, viele Einfamilienhäuser und Bauernhöfe. In der Mitte ein Wirtshaus, eine Raiffeisenbank, ein Kirchturm ragt barock in den Himmel. An diesem Freitag im Mai wird Dorf an der Pram aber zu einem Labor für die Zukunft des österreichischen Handels geadelt. Zumindest erklären das die vier Herren, die in Anzügen vor einer Box stehen und zu den Leuten sprechen.
Die Box, 36 Quadratmeter klein, außen blau und innen unbemannt, ist seit August das einzige Lebensmittelgeschäft in Dorf an der Pram. Vorher hatte es sieben Jahre lang gar keines gegeben. Der Container trägt den Markennamen Unibox ,Kunden treten mithilfe einer Handy-App oder ihrer Bankomatkarte ein, scannen ihre Einkäufe dann selbst ein und bezahlen an einem Bildschirm.
Andreas Haider ist einer der vier Männer im Anzug und Geschäftsführer der oberösterreichischen Unimarkt-Gruppe. Er hat zu dieser Pressekonferenz ins Dorf geladen. Unter die Lokaljournalisten haben sich ein paar Einheimische gemischt und hören verwundert zu. Boxen wie diese seien die Zukunft, sagt Haider: "600 Gemeinden in Österreich sind ohne Nahversorger, das Potenzial ist riesengroß." Danach spricht Alexander Palnik von der Softwarefirma Syreta, deren Technologie in den bisher zwölf Uniboxen verbaut ist. Palnik schwärmt: "Alle Händler kämpfen mit der Überbrückung der letzten Meile, auch Amazon. Mit der Unibox kommen wir den Kunden eine halbe Meile entgegen." Schließlich referiert Christoph Teller, Handelsprofessor an der Johannes-Kepler-Uni in Linz, und denkt noch größer: "Die Unibox liegt im globalen Trend, beim Einkaufen ist Nähe 'the new sexy'."
Manche Bewohner schauen die drei Herren so an, als seien sie aus einem Raumschiff gestiegen. Nur dass Bürgermeister Thomas Ahörndl (ÖVP) auch vorne steht und erzählt, dass er in der Box gerne Plundergebäck kauft, wirkt beruhigend. Dorf an der Pram, wo die Leute noch in Kirchenchor und Goldhaubengruppe zusammenfinden, soll ein Pionier fürs Einkaufen der Zukunft sein? Ja, so sieht es wohl aus. Denn in genau solchen entlegenen Dörfern wittern Start-ups und etablierte Handelsunternehmen ein weites Geschäftsfeld.
Eine Idee von Boxbetreibern wie Unimarkt ist, mit Konzernen wie Rewe und Spar gar nicht erst um immer größere Marktflächen zu kämpfen. Ihr Gegenmodell lautet, den großen Nahversorgern sehr kleine Ganznahversorger mit minimalen Personalkosten entgegenzusetzen. Wobei der Handel mit rund 5.300 Lebensmittelgeschäften im Europavergleich ein ohnehin recht dichtes Netz über Österreich spannt.
Die drei bekanntesten Automatenpioniere verfolgen hierzulande verschiedene Strategien: Die Kastlgreißler GmbH aus Niederösterreich verspricht an ihren bisher 20 Standorten einen Anteil von mindestens fünfzig Prozent wirklich regionaler Lebensmittel , und die myAcker GmbH aus Kärnten lässt in ihre derzeit 16 Ackerboxen laut eigener Aussage nur regionale Produkte einfüllen; Unimarkt-Chef Haider bestückt seine bisher zwölf Automaten hingegen mit einem überregionalen Supermarktsortiment.
Die Kastlgreißler, stark präsent im Osten, und die Ackerboxen, bisher zu finden in Kärnten und der Steiermark, verstehen sich als Regionalboxen, mit entsprechend teureren Produkten. Kastlgreißler und Ackerbox orten die weißen Flecken also im Sortiment der Supermärkte, während die Unimarkt-Gruppe auch noch weiße Flecken auf der Landkarte sieht.
Gemeinsam haben die Anbieter, dass ihre Franchisepartner mit Hilfe einer ausgeklügelten Software die Eingangstür, die Kühlung, das Licht, die Überwachungskameras und alle Warenbewegungen digital beobachten und steuern können. "Wir wollen unsere Technologie so weiterentwickeln, dass sie jeden über Nacht zum Kaufmann machen kann", erzählt Ackerbox-Gründer Christoph Raunig am Telefon.
So wie die Softwarefirma Syreta das technische Herzstück der Uniboxen liefert, verbauen die Kärntner Ackerbox-Erfinder ihre Technik mittlerweile in verschiedenen Shops, zum Beispiel in Hofläden und in einem Supermarkt im Waldviertel. Neben den zwölf Ackerboxen im Süden gebe es rund 40 weitere Kaufleute in ganz Österreich mit eingebauter Ackerbox-Technologie.
Der Kärntner Raunig, gelernter Mechaniker und Wirtschaftspsychologe, spricht von einem Umbruch im Lebensmittelhandel. Kastlgreißler-Geschäftsführer Christoph Mayer, nebenbei selbst Obstbauer, sieht das ähnlich und will auch an ein Erstarken der kleinen Landwirte glauben: Wir bringen die Revolution der Nahversorgung, weil wir im Gegensatz zum herkömmlichen Lebensmitteleinzelhandel die Entscheidung über das Sortiment dezentralisieren. Soll heißen: Ein kleiner Bauer wird mit seinen Eiern oder Milchflaschen nicht ins Regal von Billa finden, sehr wohl aber in den Automaten eines Kastlgreißlers oder einer Ackerbox.
Katrin Schöggl schleppt gerade eine Kiste Spargel in ihren Containershop an der Hauptstraße der 600-Einwohner-Gemeinde Potzneusiedl. "Seewinkler Spargel", betont sie. Die 39-Jährige ist eine der Unternehmerinnen, die die Kastlgreißler-Vision mit Leben und dafür im Burgenland täglich zwei Container mit regionalen Produkten füllt, einen in Zurndorf und einen in Potzneusiedl. Über die meisten Produkte in ihrem 13-Quadratmeter-Shop erzählt sie mit geografischen Attributen: "die Breitenbrunner Kirschen", "das Mangalica-Schwein aus Frauenkirchen", sogar in den Würsteln stecke ein Nationalparkrind .
Die Filiale ist teilweise bestückt wie ein Nobelgreißler, teilweise wie ein Supermarkt. Weil die studierte Ernährungswissenschaftlerin die einzige Nahversorgerin in Potzneusiedl ist, gibt es zum Beispiel auch Iglo-Fischstäbchen, Nutella, Kondome und Felix-Ketchup. Gerade beim Ketchup habe sie eine interessante Beobachtung gemacht: "Ich hab ein regionales Ochsenherzparadeiserketchup um 6,40 Euro und das von Felix um 2,20 Euro. Trotzdem wird das regionale bei mir öfter gekauft."
Links vom Eingang steht ein Monitor mit Kassa. Anders als die Uniboxen ist jeder Kastlgreißler auch ohne Bankomatkarte oder Handy-App zugänglich. Manche Leute legen weniger hin, andere aber auch mehr ,sagt sie, das gleicht die Diebstähle aus. Weil Schöggl nur am frühen Vormittag zum Auffüllen im Geschäft ist, hängt rechts von der Tür eine Magnettafel für Kundenwünsche. "Batterien wären schön", steht dort zum Beispiel. Oder: Eierlikör falls möglich für Gretl .Die Kastengreißlerin schreibt dann Antworten drauf. "Gute Idee" oder "Aufgrund des Jugendschutzgesetzes darf im Kastl leider kein Alkohol verkauft werden".
Schöggl bot sogar eine Greißlerinnen-Sprechstunde an, um älteren Potzneusiedlern die Angst vorm unbemannten Geschäft zu nehmen. "Es sind aber nicht viele gekommen, weil sich manche wohl schämen, wenn sie sich nicht auskennen", sagt Schöggl. In ihrem Laden steht zwar kein Personal, aber er ist nicht unpersönlich.
In der Gemeinde ist man froh über Schöggls Geschäft, vor den Container hat man eine Holzbank gestellt. Eine lokale Brauerei hat kürzlich einen Bierautomaten danebengestellt, es entsteht sozusagen eine Automatensiedlung.
"Der Kastlgreißler kann eine Pionierpflanze für das Dorfleben sein", ist Gründer Christoph Mayer überzeugt. "Einen Nachweis, dass wir irgendwo hundert Einwohner mehr gebracht hätten, können wir noch nicht erbringen. Uns gibt es ja erst seit 2020."
Ackerbox-Erfinder Raunig bestätigt großes Interesse von Bürgermeistern, eine seiner High-Tech-Kisten auch für ihr Dorf zu bekommen, Unimarkt-Chef Haider erzählt gar von "hunderten Anfragen für Boxen". Kann ein Automatengeschäft die Nahversorgung und sogar das Dorfleben retten? In Orten wie Dorf an der Pram geschieht das bereits. JKU-Professor Teller erforschte dort auch die Kundenzufriedenheit. Ein Fazit seiner Studie: "Auch ein unbemannter Shop kann die soziale Interaktion in Ortskernen fördern."
Bleibt die Frage, warum die etablierten Handelsgiganten nicht selber mit unbemannten Shops in die hinteren Winkel des Landes drängen. Eine Antwort ist, dass Rewe ein solches Experiment schon gestartet hat, die Begeisterung in der Zentrale in Wiener Neudorf soll sich in Grenzen gehalten haben. Im April 2021 hatte Rewe in vier Kärntner Gemeinden je eine elf Quadratmeter kleine Billa-Regionalbox aufgestellt. Die Boxen würden zwar weiterhin befüllt werden, es seien aber keine weiteren geplant, heißt es ein Jahr später auf Nachfrage von DATUM.
Das dürfte weniger am damaligen Aufschrei der Landwirtschaftskammer liegen, die einen Angriff auf bäuerliche Selbstbedienungsladen witterte. Schließlich hielt Billa bald entgegen, man bespiele die Boxen insbesondere mit Produkten regionaler Kleinbauern. Vielmehr seien die Supermarktdichte in Österreich zu hoch und die gesetzlich möglichen Öffnungszeiten von 72 Stunden pro Woche zu kurz, um das Konzept weiter auszurollen, heißt es heute.
Dass die Öffnungszeiten in Österreich auch für Automatenshops gelten, ist Konzernen wie Start-ups ein Dorn im Auge.
Die neuen Mitbewerber erklären sich die fehlende Lust von Spar und Rewe am Geschäft mit der Box auch mit deren Konzernstatik. "Die Großen denken in Regalmetern", sagt Alexander Palnik vom Unibox-Partner Syreta. "Der Fahrer eines Billa-Lkw liefert Rollcontainer und hat nicht die Zeit, einen Laden zu bestücken." Und auch Ackerbox-Gründer Raunig meint: "Die Systeme, die Handelsketten jahrelang aufgebaut und zentralisiert haben, jetzt wieder zu dezentralisieren, ist unmöglich." Er weiß, wovon er spricht, denn seine myAcker GmbH hat Rewe das Konzept für dessen vier Regionalboxen in Kärnten geliefert. Im Prinzip sind sie Ackerboxen mit einem Billa-Anstrich.
Werden neben Kirchtürmen und Bauernhöfen also bald Boxen das Ortsbild prägen? Unimarkt-Chef Haider erwartet das nicht, zumal die neuen Geschäftskonzepte ja auch in Leerstände hineinkämen. Haider sieht die Zukunft auf dem Land auch in halbautomatischen Geschäften. Im Sommer will er den ersten Nah-und-Frisch-Hybrid aufsperren, in Gaflenz im Bezirk Steyr-Land. Am Vormittag sollen die Kunden noch bedient werden, am Nachmittag wird das Geschäft dann offen, aber unbemannt sein. Haider glaubt, dass auch Bäcker und Fleischhauer zunehmend auf Automaten umstellen werden. "Das Konzept der Boxen muss gar nicht überall dominant werden, es kann auch im Nischenformat ein Erfolg sein", sagt Handelsprofessor Teller.
Auch in den Städten experimentiert der Handel, wie er Einkäufe vereinfachen oder auch Personal einsparen kann. Doch diesmal ist der ländliche Raum das Versuchsfeld, von dem Innovationen in die Städte getragen werden. Am radikalsten turnt der US-Konzern Amazon die Revolution vor, bereits 2018 eröffnete er in Seattle den ersten Amazon Go, in dem es keine Kassa mehr gibt, sondern die Einkäufe durch Sensoren beim Verlassen des Geschäfts berechnet werden. Ein bisschen zu teuer für Dorf an der Pram.
"Es gibt noch riesigen Bedarf an vernünftigen Lösungen auf dem Land", sagt Kastlgreißler-Chef Mayer. Sein Unternehmen will bis zum Jahresende 65 Container in Betrieb genommen haben, der Konkurrent Unimarkt will die Zahl seiner Boxen bis dahin auf immerhin 20 erhöhen.
Wenn man die Kastlgreißlerin Katrin Schöggl fragt, ob sie noch einen weiteren Automatenshop eröffnen will, spürt man, dass Potenzial vorhanden ist. Die Nahversorgerin erzählt, sie wünsche sich einen dritten Standort im Burgenland: Nur wo, das will ich lieber nicht sagen, "sonst macht's wer anderer. Es gibt zu viel Konkurrenz."