Der Niederösterreicher Christoph Brückner unterhält mit seinen Bildern fast zehn Millionen Fans auf TikTok.
(erschienen am 29.10.2020)
Der Tag von Christoph Brückner beginnt mit einer Tasse Milchkaffee und einer Schraubzwinge. Mit müden Augen schlurft er in sein Arbeitszimmer, das voller Stifte, Farben und Zeichenblöcke ist. Im ersten Stock oben schlafen seine beiden Töchter noch. Es ist halb sechs Uhr früh, Brückner dreht zwei Tischlampen auf, dazu noch eine Rundleuchte. Er braucht Licht, viel Licht. Er spannt sein Smartphone in der Mitte der Rundleuchte ein, um damit zu filmen. Mit der Schraubzwinge klemmt er Papier auf dem Schreibtisch fest und fängt an zu zeichnen.
"Ich habe mit der Qualität zu kämpfen", sagt Brückner und deutet auf sein altes Huawei-Handy. Dabei produziert der 36-Jährige die erfolgreichsten Videos aus Österreich für die Handy-App TikTok. Knapp zehn Millionen Fans hat er, fast 150 Millionen Mal wurden seine Kurzvideos mit einem Like versehen. Beide Zahlen steigen täglich. Bei lautet sein Name condsty, ein Relikt aus alten Computerspieltagen. Von Oberwölbling im Mostviertel aus sendet Brückner seine Zeichnungen in die Welt hinaus. Seine Fans leben über den Globus verteilt, die meisten seien deutlich unter 20 Jahre alt, vermutet er.
Brückner zeichnet meistens geometrische Figuren mit 3-D-Effekten, manchmal Comicbilder. In seinen Videos sieht man gewöhnlich nur seine Hand, die einen schwarzen Filzstift führt. Den Weg zur Zeichnung schneidet er dann zu einem kurzen Video, unterlegt das Ganze mit Popmusik und stellt es online. In seinen ersten Filmen, die er 2019 drehte, war er noch öfter selbst zu sehen. Trotz seines Barts und seiner kräftigen Hände wirkt Brückner immer ein wenig bubenhaft, vor allem wenn er lächelt.
Die meisten Fans hatte Brückner früher in Indien, bis die chinesische App TikTok dort im vergangenen Juni verboten wurde. Nun kommen viele Bewunderer aus Indonesien, Vietnam, Brasilien und Mexiko. Sie schwärmen in ihren Kommentaren, dass Brückner so gerade Striche ziehe. Seine Fans aus Asien und Lateinamerika schreiben Sätze wie "Ich bin süchtig nach dir" oder "Deine Hände sind magisch". Wenn man den Niederösterreicher darauf anspricht, beginnt er zu lachen. Dass er mit Zeitraffern nachhilft, damit alle Striche flüssig wirken, gibt er ohne Umschweife zu.
An diesem Freitagmorgen versucht er sich an ineinander verschachtelten Würfeln. Doch die Zeichnung gelingt nicht. "Abbruch", sagt Brückner zu sich selbst und hastet aus dem Arbeitszimmer. Er muss los. Denn trotz der millionenfachen Huldigungen aus aller Welt verdient Brückner mit TikTok bisher fast kein Geld. Daher steckt er bereits in einer rot-schwarzen Arbeitshose, als seine Ehefrau Corinna und die kleinen Töchter Leona und Sophia um sechs Uhr früh mit verschlafenen Augen die Stiege herunterkommen und ihm einen schönen Tag wünschen.
Um 6.30 Uhr drückt Brückner im Gemeindeamt auf die elektronische Stempeluhr. Oberwölbling, auf halbem Wege zwischen St. Pölten und Krems am Rande des Dunkelsteiner Walds gelegen, ist die größte Ortschaft in der 2500-Einwohner-Gemeinde Wölbling. Würde man sagen, es sei wahrscheinlicher, hier um halb sieben einen Fuchs oder einen Feldhasen als einen Menschen zu treffen, wäre das eine Übertreibung. Aber nur eine kleine.
Der Internetstar Brückner ist im analogen Leben einer von fünf Gemeindebediensteten, die sich um die Pflege und Reparatur der öffentlichen Anlagen kümmern, vom Waldbad bis zum Pumpwerk. Seit dem Frühjahr hat er diesen Job, davor hatte er im Lager eines Baumarkts gearbeitet. Brückner steigt aus seinem Pritschenwagen aus, an diesem Freitag muss er den ganzen Vormittag lang Sträucher stutzen und Unkraut abschneiden. Er zieht sich zwei klobige Arbeitshandschuhe über seine Zeichnerhände, reißt an der Starterschnur seiner Heckensäge und legt los. Gemeinsam mit einer Kollegin steht er knietief im Unkraut. Die Säge ist schwer, bald schmerzen Brückners Unterarme. "Bei der Säge brauchst du nachher zehn Minuten, bis du die Hände wieder spürst", sagt er, "ist eine Gewöhnungssache."
In einer Trinkpause erzählt seine Kollegin, bevor Brückner angefangen habe, bei der Gemeinde zu arbeiten, "hat man mir erzählt, du bist nicht ganz dicht". "Warum?", fragt Brückner. "Weil du kindische Videos ins Internet stellst, hat's geheißen. Aber jetzt kenne ich dich ja, und du bist eh okay", sagt sie und lacht.
Gleichgültigkeit oder auch Unverständnis für seine Videos erfährt Christoph Brückner aber immer wieder. Die Zeichnungen seien uninteressant, und die App sei ohnehin nur ein Spielzeug für Kinder, hört er von Freunden. In seinem Heimatort bleibt sein Erfolg bisher weitgehend unentdeckt. Es klingt ein bisschen wie eine Aschenputtel-Geschichte, nur ohne böse Stiefschwestern.
Dass condsty mit 36 Jahren, einem Vollzeitjob und zwei Kindern so populäre österreichische Influencer wie die 19-jährige Lisa-Marie Schiffner (2,2 Millionen Follower) oder die 23-jährige Anna Strigl (1,4 Millionen Follower) auf TikTok weit hinter sich lässt, wird in Wölbling nicht so richtig gewürdigt. Der einzige Österreicher, der noch mehr TikTok-Fans hinter sich weiß, ist der exzentrische Vorarlberger Jakob Kasimir Hellrigl alias Candy Ken. Der lebt mittlerweile in Los Angeles.
TikTok gehört dem chinesischen Internetkonzern Bytedance. Im Oktober 2019 waren 800 Millionen aktive Nutzer registriert, mittlerweile dürfte die Zahl weit höher liegen. Damit gilt TikTok als die weltweit beliebteste App bei Jugendlichen. Die Videos hier sind kürzer, schneller, bunter und frecher als bei anderen Portalen. Filmschnipsel mit viel Musik, Lippensynchronisation und Tanz dominieren das Programm.
Die Machart reicht von billigem Slapstick bis zur gekonnt geschnittenen Aufnahme mit Drohnen. Die Videos können höchstens 60 Sekunden dauern. Brückner erklärt sich seinen Erfolg damit, dass die Zeichnungen meist einfach gehalten sind und Jugendliche ihm nacheifern könnten. "Wenn ich sehe, dass sie meine Zeichnungen nachahmen, dann folge ich ihnen auch. Sie probieren’s, das gefällt mir." Er folge bereits 3000 anderen, "da bin ich nicht knausrig".
Manche Social-Media-Stars werden mit ihren Videos reich. Bei TikTok braucht es dafür Werbepartner. Brückner habe bislang fast nichts verdient, sagt er – trotz seiner enormen Reichweite. Vielleicht ändert sich das jetzt. Die Wiener Agentur Diego5 Studios, die Influencer vermarktet, hat ihm vor wenigen Tagen einen Vertrag angeboten. Bisher musste Brückner seine Videos produzieren, so sparsam es ging. Was er dafür brauchte, kaufte er beim Diskontmarkt. "Der Stift muss eine runde Spitze haben und gleiten", erklärt Brückner. Er griff zu den billigsten Packungen mit je zehn Stiften, obwohl immer nur ein schwarzer drinnen war. "Die bunten kriegten die Kinder", sagt Brückner.
Seit Kurzem hat er einen Deal mit der österreichischen Firma Brevillier Urban & Sachs, die hinter der Marke Jolly steht. Für drei Werbevideos im Monat bekommt er kostenlos Stifte und Farben. Auch ein neues Handy könnte er gut brauchen. Auf seinem hat er immer nur wenige Hundert Megabyte Speicher übrig, weil die Videos den Platz fressen. Außerdem springt bei seiner Handykamera der Fokus während des Zeichnens um. Doch der Kredit für das gemeinsame Einfamilienhaus mit Ehefrau Corinna, Teilzeitangestellte bei der Niederösterreich-Werbung, lässt große Ausgaben nicht zu. Sein Job bei der Gemeinde hat die beiden von größeren Geldsorgen befreit.
Am Ende des Arbeitstages fährt Brückner mit seinem Pritschenwagen einen Haufen Unkraut zum Sammelplatz und schiebt das Grünzeug mit einer Heugabel von der Ladefläche. "Er ist total bemüht, er scheut keine Herausforderung", sagt Bürgermeisterin Karin Gorenzel (SPÖ) über ihn. "Er ist einer, der mitdenkt. Manchmal macht er sich, glaube, ich schon zu viele Gedanken."
Einst hatte Brückner eine zweifache Lehre zum Maler und Anstreicher sowie zum Vergolder und Staffierer absolviert. Zunächst arbeitete er in diesen Berufen, er restaurierte unter anderem die Kapelle in Paudorf und die Orgel in der Kartause Aggsbach. Als sein Arbeitgeber in Finanznöte geriet, kam Brückner beruflich im Baumarkt unter. Eine Übergangslösung, dachte Brückner damals. Er blieb fast zehn Jahre lang.
Freitagnachmittag in Oberwölbling, Brückners Mutter kommt zu Besuch, auf dem Tisch steht Kuchen. "Er hat so ein G’spür, er ist so feinfühlig", lobt sie den Sohn. Das trifft auch auf die Wahl seiner Motive zu. Brückner durchforstet ständig das Internet, um zu sehen, welche Comicfiguren und Computerspiele gerade angesagt sind.
Am späten Nachmittag zieht sich Brückner noch einmal in sein Arbeitszimmer zurück. Er legt eine Metallkette auf ein Blatt Papier und formt sie zu einem Herzen. Im Muster eines Regenbogens quetscht er Farbkleckse in die Kette und beginnt mit dem Handy zu filmen. Schließlich zieht er die Metallkette nach innen, sodass die Farben verrinnen und das Herz füllen. Keine Zeichnung diesmal, sondern etwas Neues, um die Fans bei Laune zu halten. Er schaut aufs Handy. "Nicht perfekt", sagt er, "wurscht, ich stell’s online."
Christoph Brückner weiß, während er zur Arbeit geht, mit seinen Töchtern
spielt oder mit der Familie isst, steigen unter seinen Videos verlässlich die Zahlen
der Likes. Fast wie ein Landwirt, der etwas gesät hat und weiß, dass es nun wächst.
An diesem Abend bringt Christoph Brückner seine Töchter um 20 Uhr ins Bett, condsty
verzeichnet unter dem Regenbogenherzen da bereits 200.000 Likes.