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Aus dem Schatten in das Flutlicht der Großmacht China

Joel Marklund / Picture Alliance

China Die Unsichtbaren: Wie steht es um Menschen mit Behinderung im Land der Paralympics?

Die Olympischen Spiele 2022 in Peking waren ein politischer Wettbewerb − die Kritik an Ausrichter China im Vorfeld so groß wie nie zuvor. Außenministerin Baerbock und viele weitere europäische Politiker kündigten an, die Spiele zu boykottieren. Der russische Präsident Putin hingegen stattete China zu Ehren einen Besuch ab. Verständlicherweise sind in Deutschland viele der Meinung, Putin habe aus Rücksicht gegenüber Peking mit dem Überfall auf die Ukraine bis zum Ende der Winterspiele gewartet − dabei sind diese noch gar nicht vorbei. Denn nach Olympia ist vor den paralympischen Winterspielen. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) verurteilte in der vergangenen Woche "mit Nachdruck" Russland für den "Bruch des Olympischen Friedens".

2022 finden die paralympischen Winterspiele vor der Kulisse eines Krieges statt. Das Problem: So wirklich interessieren tut dies gerade kaum jemanden. Auf ein politisches Olympia werden deshalb unerwartet unpolitische paralympische Winterspiele folgen − wäre da nicht der Austragungsort. Denn dieser ist für Menschen mit Behinderungen ein schwieriges Pflaster. Die Sportler treten in einem Land gegeneinander an, das nicht gerade für seinen guten Umgang mit Menschen mit Behinderung bekannt ist. Doch ist die Kritik an Ausrichter China berechtigt?

Wie geht es Menschen mit Behinderung in China?

In China leben rund 85 Millionen Menschen mit Behinderung. In der Zahl sind das mehr Menschen als Deutschland Einwohner hat. Im Jahr 2008 unterschrieb China die UN-Behindertenrechtskonvention nur wenige Monate vor den Olympischen Spielen in Peking. Das Menschenrechtsabkommen stellte damals eine Liste an Forderungen auf, die weltweit gewährleisten sollen, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr als "krank" oder "behindert" herabgesetzt, sondern als gleichberechtigte Menschen angesehen und behandelt werden.

Zieht man Bilanz, so ist festzustellen: Seit den Olympischen Spielen 2008 hat sich die Lage für Menschen mit Behinderung in China entscheidend verbessert. So verlangt die chinesische Regierung seitdem beispielsweise von Unternehmen mindestens 1,5 Prozent der Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderungen zu vergeben. Wer diese Vorschrift nicht einhält, muss eine Strafe zahlen und in einen Fonds für Berufsbildung und Arbeitsvermittlung für Menschen mit Behinderung einzahlen. Dass viele Universitäten und Behörden sich weigern, Menschen mit Behinderungen einzustellen, und stattdessen freiwillig die Strafe zahlen, ist weltweit keine Ausnahme. In Deutschland ist die Situation keine andere.

Austragungsort China: Ein schweres Pflaster für Menschen mit Behinderung

Von einer uneingeschränkten Teilhabe von Menschen mit Behinderung am normalen Alltag ist das Land noch immer weit entfernt. In weiten Teilen des Landes gibt es bis heute keine Barrierefreiheit. Hinzu kommt eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, die aus der grundlegend buddhistischen Prägung des Landes und dem Glauben an die Wiedergeburt resultiert. Ein behindertes Kind gilt noch immer vielerorts als Bestrafung für ein vorangegangenes Leben. Aus diesem diskriminierenden Aberglauben entsteht noch heute eine Scham, die chinesische Eltern dazu verleitet, frühzeitig abzutreiben oder ihr Kind mit Behinderung direkt nach der Geburt in ein Heim zu geben und zu verschweigen.

Ein Großteil der rund 85 Millionen Menschen mit Behinderung in China blickt deshalb auf eine Kindheit und Jugend im Heim zurück. Fast 90 Prozent der Kinder in chinesischen Waisenheimen haben eine Behinderung. Gerade auf dem Land, wo finanzielle Mittel und medizinische Versorgung für Kinder mit Behinderungen knapp sind, trennen sich Eltern häufig von ihren Kindern. Zwar erhalten Menschen mit Behinderung in urbanen Zentren heute vielerorts staatliche Sozialhilfe und sind krankenversichert, auf dem Land hingegen − wo ein Großteil der Menschen mit Behinderung lebt - ist dies häufig nicht der Fall.

Diskriminiert im eigenen Land

Das Schulsystem in China steht Menschen mit Behinderung grundlegend offen. Sofern sie mit den Umständen an den Schulen mithalten können, darf jeder Mensch mit Behinderung in China eine Schule besuchen. Für einen barrierefreien Zugang fehlt den Schulen jedoch häufig das Geld. Noch 2013 konnte deshalb fast die Hälfte von Chinas Menschen mit Behinderung weder Lesen noch Schreiben.

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Welches Bild von Menschen mit Behinderung in China bis heute besteht, zeigt sich auch in der Sprache. Menschen mit geistiger Behinderung werden als "Shazi" (Idioten) oder "Chanfei" (nutzlos) bezeichnet. Auch der Begriff "canji" (krank) oder "Canzhang" (unvollständig/behindert) sind gängige Bezeichnungen.

Paralympics in China: Muss das sein?

Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) sagte kürzlich gegenüber "ntv", die Athleten seien "die Opfer, die praktisch in Sippenhaft genommen werden. Und an Orten zu sportlichen Vergleichen gezwungen werden, für die es eigentlich keine gesellschaftliche Anerkennung geben darf." Die Athleten dürften sich selbstverständlich frei äußern - sollte es jedoch zu Reaktionen Chinas kommen, so verspüre Beucher eine "Fürsorgepflicht" und werde zum Schutz seiner Sportler einschreiten müssen.

Doch der Aufwärtstrend, den China bestreitet, gehört unterstrichen: Es tut sich etwas, wenn auch langsam. Man muss Peking zugute halten, dass es so massiv in den paralympischen Sport investiert, wie kaum ein anderes Land auf der Welt. Als China 2008 die ersten paralympischen Spiele austrug, wurde in einem Vorort der Hauptstadt das größte paralympische Sportzentrum der Welt gebaut, während in den Provinzen achtzehn weitere Stützpunkte entstanden. Nach Angaben der Kommunistischen Partei flossen seitdem jährlich 100 Millionen Yuan, umgerechnet 14 Millionen Euro, in den Behindertensport. Die Folgen sind längst erkennbar. China dominiert seit den Paralympics 2004 in Athen den Medaillenspiegel. Bei den Spielen 2016 in Rio de Janeiro gewann die Delegation aus Peking 107 Goldmedaillen - 43 mehr als die Nummer zwei Großbritannien, das es zum gleichen Zeitpunkt auf 68 Medaillen brachte. Längst sind in China Medaillen zum Beleg für die Fürsorge des Sozialstaates gegenüber Menschen mit Behinderung geworden. Die Athleten des chinesischen Paralympics-Team sind die wenigen Gesichter einer ansonsten unsichtbaren gesellschaftlichen Gruppe.

Unsichtbar in China und kaum sichtbar in Deutschland

Die paralympischen Winterspiele 2022 finden am Rande eines Krieges in einem Land statt, das für Menschen mit Behinderung mehr tun muss, als Sportförderung. Denn jedes Jahr kommen in China hunderttausende Kinder mit einer Behinderung zur Welt. Ob die Paralympics 2022 dafür eine Öffentlichkeit schaffen werden, bleibt abzuwarten.

Zu allem Überfluss haben ARD und ZDF in diesem Jahr ihre Berichterstattung von den Winter-Paralympics im klassischen Fernsehen deutlich reduziert. Man fragt sich warum. Weniger als die Hälfte des Umfangs der Paralympics-Übertragung von 2018 werden in diesem Jahr gezeigt. Vor vier Jahren aus Pyeongchang waren es noch 65 Stunden im klassischen TV. Der Großteil der Übertragungen läuft stattdessen in diesem Jahr im Internet. Einen Grund dafür nennen die Sender nicht. "Das ist eine Verlagerung, aber keine Verringerung unseres Angebotes", erklärte ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann. Wie glaubwürdig das ist, muss jeder selbst entscheiden.

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