Interview
Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Pandemie und Psyche: Woran erkenne ich eine Depression bei meinem Kind?14 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland. Seit mehr als einem Jahr nehmen sie Rücksicht, führen Nasenabstriche vor dem Unterricht durch oder lernen allein zuhause − ihr Risiko, schwer an Corona zu erkranken, ist sehr gering. Zeitgleich steigen in Kliniken die Einweisungen von Kindern mit Verdacht auf eine Depressions-Erkrankung. Die Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf Carola Bindt im Gespräch mit dem stern über eine noch immer stigmatisierte Krankheit.
Frau Bindt, insgesamt vier Kinder in Deutschland sind seit Beginn der Pandemie an Covid-19 gestorben. Laut der Copsy-Studie ihrer Klinik hat jedes dritte Kind während der Pandemie-Zeit eine psychische Auffälligkeit entwickelt. Da herrscht doch eine erschreckende Unverhältnismäßigkeit? Ja, das tut es! Den Kindern wurde während der Pandemie durch Schulschließungen, soziale Isolation und lange Quarantäne-Zeiten sehr viel zugemutet, angesichts der offensichtlich medizinisch nicht so hoch zu bewertenden Gefährdung durch eine Infektion mit Covid-19. Die Copsy-Studie am UKE ist zu Beginn der Pandemie von Mai bis Juli 2020 durchgeführt worden. Das ist wichtig zu sagen, da sich die Ergebnisse auf eine Zeit berufen, in der die Gesellschaft noch keine Adaptation an die neue Situation hergestellt hatte. Bundesweit fand sich damals bereits eine erhöhte Anzahl psychischer Auffälligkeiten bei Kindern.
Was ist mit "psychischen Auffälligkeiten" genau gemeint? Es gibt häufig das Missverständnis, psychische Auffälligkeiten mit psychischen Störungen gleichzusetzen. Konkret sind mit psychischen Auffälligkeiten beispielsweise Befindlichkeitsstörungen gemeint: ein allgemeines Erschöpfungsgefühl, Gereiztheit, Einschlafprobleme, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen. Diese Auffälligkeiten sind seit Beginn der Pandemie nachweisbar angestiegen. Wächst die Zahl dieser psychischen Auffälligkeiten, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch die Zahl der psychischen Störungen ansteigt.
Hat die Zahl der an Depression erkrankten Kinder durch die Corona-Pandemie zugenommen? Über den Anstieg der Erkrankungshäufigkeit bei Kindern beispielsweise an einer voll ausgebildeten Depression wissen wir noch nicht genug. Wir haben allerdings subjektiv das Gefühl, dass die Zahlen und die Zuweisungen derzeit ansteigen.
Wie äußert sich das in ihrer Klinik? Das zeigt sich an unseren Wartelisten: In den vergangenen zwei Monaten mussten wir feststellen, dass die Wartzeiten für eine stationäre Versorgung von Kindern mit Depressionen immer länger wurden. Zudem bemerken wir einen stärkeren Zulauf von jungen Patienten auf die Ambulanz der Klinik. Vor allem in der Nacht und an Wochenenden suchen immer mehr Eltern mit ihren Kindern die Notfallversorgung auf. Die Diagnose einer Depression braucht jedoch Zeit, dafür haben wir noch keine genauen Zahlen.
Ihre Klinik ist eine der größten universitären Kinder- und Jugendpsychiatrien Deutschlands. Reicht die Anzahl an Betten für die eben erwähnten langen Wartelisten? Derzeit haben wir 78 Behandlungsplätze für einen ganztägigen stationären Aufenthalt, wie auch für einen achtstündigen Aufenthalt in der Tagesklinik. Wenn man hört, wir hätten lange Wartelisten, denkt man schnell, wir hätten zu wenige − so einfach ist die Rechnung jedoch nicht. Manchen Familien auf der Warteliste passt es beispielsweise zeitlich nicht, wenn wir ihnen ein Bett für ihr Kind anbieten, weil sie ihr Kind erst am Ende des Schuljahres oder nach einem Familienurlaub in die stationäre Behandlung geben wollen. Ob die Anzahl der Betten ausreicht, ist deshalb eine schwierige Frage. Jahresberichte verschiedener Krankenkassen zeigen jedoch, dass sich die Nachfrage nach psychologischer Betreuung für Kinder während der vergangenen zehn Jahre verdoppelt hat. Wir wollen auf diese Zahlen aber nicht mit mehr Betten reagieren, sondern unsere Ambulanz und das Hometreatment der Familien ausbauen. Kinder und Jugendliche sind besser in ihrem sozialen Umfeld behandelbar. Eine stationäre Behandlung bedeutet für ein Kind immer den Abriss der sozialen Beziehungen und des schulischen Alltags.
Welche Erfahrungen der Kinder während der Corona-Pandemie können eine Depression begünstigen? Grundlegend sollten sich Eltern vergegenwärtigen, dass Kinder und Jugendliche ein ganz anderes Zeiterleben haben als Erwachsene. Für ein Kind sind ein paar Wochen länger Lockdown eine sehr sehr lange Zeit. Eltern bemerken dieses andere Zeiterleben, wenn sie mit ihrem Kind in Urlaub fahren und alle halbe Stunde kommt die Frage: "Sind wir bald da?".
Zugleich haben Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen kaum Erfahrungen mit überstandenen Krisen. Wir beobachten bei Kindern in unserer Klinik eine viel größere Hoffnungslosigkeit, was die Pandemie betrifft, weil sie nicht daran glauben, dass es vorbei geht und alles wieder gut wird. Dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit kann beispielsweise eine Depression begünstigen. Bedeutsam ist auch der Verlust der Kontakte mit Gleichaltrigen. Gerade selbstunsichere Kinder finden oft den Anschluss nicht mehr und ziehen sich depressiv zurück.
Welche Rolle spielt die Familie in Bezug auf das Thema Depression? In unserer Studie hat sich gezeigt, dass das Maß an familiärem Zusammenhalt und Unterstützung, sei es im beruhigenden, tröstenden oder auch ermutigenden Sinne, vor psychischen Auffälligkeiten schützt. Familiäre Belastung schafft für ein Kind eine erhöhte Gefährdung, an einer Depression zu erkranken. Eine solche Belastung kann beispielsweise durch eine psychische Erkrankung der Eltern, ökonomische Unsicherheiten oder Konflikte zwischen Familienmitgliedern entstehen. In unserer Klinik haben wir in den letzten Monaten die Erfahrung gemacht, dass sehr viele Kinder, die wir behandeln, sich Sorgen um ihre Eltern machen. Eine zunehmende Genervtheit der Eltern im Homeoffice, Sorgen über eine unsichere berufliche Zukunft, vermehrter Streit in der Beziehung − das alles bekommen Kinder sehr wohl mit.
Jährlich erkranken laut Statistischem Bundesamt allein in Deutschland rund sechs Millionen Menschen im Alter von 18 bis 65 Jahren an einer Depression − es ist eines der häufigsten Krankheitsbilder in der westlichen Welt. Warum gibt es keine Zahlen, wie viele Kinder jährlich an einer Depression erkranken? Das ist eine gute Frage! Ein grundlegendes Problem in Bezug auf das Krankheitsbild der Depression bei Kindern und Jugendlichen ist, dass die Krankheit je nach Entwicklungsphasen in einem unterschiedlichen Gewand auftritt. Kleine Kinder zeigen eine Depression durch eine Unlust am Spielen oder durch störendes Herumkaspern und hyperaktives Verhalten. Im Schulalter sind die Merkmale einer Depression viel eher morgendliche Übelkeit, Kopfschmerzen, Unlust, das Haus zu verlassen oder Lernstörungen. Das Problem ist, dass man all diese Merkmale verschiedener Altersgruppen nicht in einer Stichprobe zusammenfassen kann.
Wird die Depression in erster Linie als eine Erwachsenen-Krankheit wahrgenommen? In der Öffentlichkeit ist das tatsächlich ein Problem. Man stellt sich nicht in erster Linie vor, dass Kinder besorgt und traurig sind. Vielmehr ist das klassische Bild von einer fröhlichen und unbeschwerten Kindheit vorherrschend.
Ist demnach die Depression bei Kindern noch immer ein gesellschaftliches Tabu? Ja. In der Debatte der letzten Jahre um Burnout und Erschöpfung ist das Thema Depression bei Erwachsenen vermehrt salonfähig geworden. Bei Kindern sieht das anders aus. Wir erleben sehr häufig, dass Eltern und Kinder, die in unserer Klinik Hilfe suchen, Angst vor Stigmatisierung haben. Eine Depression bei einem Kind oder einem Jugendlichen wird gesellschaftlich schnell auf die Eltern projiziert. Eltern, die ihre Kinder zu uns bringen, wollen immer schnell wissen, dass alles ok ist und dass die Erkrankung nichts mit der Familie zu tun hat. Sehr schnell steht bei einer Depressionsdiagnose dann auf Seiten der Eltern die Frage im Raum: "Was habe ich falsch gemacht?" Dieses latente Schuldgefühl bewirkt eine Zurückhaltung, das eigene Kind einem Kinderpsychologen oder gar einem Psychiater vorzustellen.
Bei vielen Krankheiten sagt man: "Je früher erkannt, desto besser". Gilt das auch für eine Depression bei Kindern? Ja, auf jeden Fall! Wir wissen inzwischen, dass Depressionen bei Kindern psychotherapeutisch gut behandelbar sind. Behandelt man eine Depression nicht, so führt das häufig bei jungen Kindern zu einem Rückzug aus der schulischen und sozialen Welt, der die Entwicklungswege stark beeinträchtigt. Als Erwachsener kann man sich als Angestellter im Falle einer Depression eine Auszeit nehmen, ein Kind hingegen gerät durch eine Depression schnell ins Abseits, wodurch seine Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Generell beobachten wir in unserer Klinik: Je jünger das Kind ist, wenn es behandelt wird, desto früher verlässt es wieder die Klinik.
Woran erkennt man als Elternteil eine Depressionserkrankung bei seinem Kind? Grundlegend ist bei der Diagnose von Depressionen im Kindesalter zu sagen: Die Krankheit ist nicht angeboren, sondern sie nimmt irgendwann ihren Anfang. Dabei hat jedes Kind eine andere Ausgangssituation. Ein Kind ist vielleicht draufgängerisch, neugierig, extrovertiert fröhlich, ein anderes Kind ist seit jeher eher ruhiger, vorsichtiger und zurückhaltender. Ändern sich die typischen Merkmale und Verhaltensmuster des Kindes plötzlich, sollte man genauer hingucken. Etwa wenn sich das Kind zurückzieht, keine Lust mehr hat zu spielen oder seine Freunde zu treffen, an seiner Sportart keinen Gefallen mehr findet, der Musikgeschmack sich schlagartig ändert und traurige Phasen länger werden − solche Veränderungen können Merkmale einer Depression sein. Letztlich geht es bei der Diagnose einer Depression bei Kindern immer um wahrnehmbare, allmählich oder plötzlich auftretende Veränderungen des Kindes. Muss ein Kind mit seiner Familie 14 Tage in Quarantäne, ist es normal, dass es antriebsgemindert ist. Hält dieser Zustand der Veränderung an und das Kind ist nicht wieder aktivierbar, grübelt viel, hat keinen Appetit oder isst ständig, entwickelt Schlafstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen in der Konfrontation mit schulischen Anforderungen oder anhaltende Ängste, dann ist das auffällig!
Ist es schwieriger als Therapeutin, eine Depression bei einem Kind als bei einem erwachsenen Menschen festzustellen? Ja, insofern, dass Kinder sich noch nicht so gut wie Erwachsene von außen betrachten und ihre Stimmung beschreiben können. Deshalb muss ich als Therapeutin bei einer Diagnose auch auf die Eindrücke von Eltern und Erziehern zurückgreifen. Kinder verharmlosen auch oft aus Unsicherheit ihre Notsituation und kommen im Gegensatz zu Erwachsenen nicht aus freien Stücken zum Psychiater, sondern werden von ihren Eltern gebracht. Vor der Diagnose müssen wir dann erstmal ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern aufbauen, ehe sie erzählen, wie es ihnen wirklich geht. Darin sind wir aber geübt.
Was mache ich als Elternteil als erstes, wenn ich bei meinem Kind eine Depression vermute? Der erste Weg geht zum Kinderarzt, der in der Regel die Familie und das Kind bereits kennt. Kinderärzte helfen einem als Elternteil bei der Entscheidung, was zu tun ist. Der nächste Ansprechpartner ist ein niedergelassener Kinderpsychiater, der für eine Beratung und Diagnose zur Verfügung steht.
Wie sieht in ihrer Klinik die Behandlung einer Depressionserkrankung bei Kindern aus? Mein Ideal wäre, dass in unserer Gesellschaft Eltern mit ihrem Kind zum Psychiater wie zu einem Kinderarzt gehen und eine Frage zu einer Auffälligkeit stellen. Kommt jemand zu uns in die Klinik, machen wir deshalb zunächst einmal eine Diagnostik und Beratung. Einen Anteil der jungen Patienten, die zu uns kommen, entlassen wir nach der Diagnostik mit der Antwort: "Zum Glück liegt keine psychische Erkrankung vor" und dem Rat, sich wieder vorzustellen, sollte es schlimmer werden.
Bei Kindern, wo wir sagen, die haben eine depressive Störung, gucken wir ganz genau auf den Kontext, in dem diese Erkrankung entstanden ist. Dabei ist unser Ansatz, die Familie von Beginn an mit einzubeziehen und zu beraten, wie sie zusammen mit dem Kind an den Symptomen der Erkrankung arbeiten können. Manche Kinder bekommen aber auch eine eigene Therapie bei niedergelassenen Kinderpsychotherapeuten von uns empfohlen, mit begleitenden Elterngesprächen.
Auf unseren Stationen behandeln wir depressive Kinder, indem wir eine verlorene Tagesrhythmik wiederherstellen. Tagsüber gibt es Gruppen, in denen sich die Kinder erzählen, wie es ihnen geht, was sie gerne machen und wie sie das irgendwann wieder machen können. Daneben haben wir Musiktherapie mit einem Bandprojekt, Kunsttherapie, Bewegungstherapie, verschiedene Außenaktivitäten in Museen, auf einem Bogenschießstand oder in Workshops. In Kombination mit regelmäßigen Besuchen der Eltern erreichen wir die Kinder gut und können bestehende Probleme lösen.
Welchen Unterschied gibt es in der Behandlung einer Depression bei Kindern und bei Erwachsenen? Bis in die Pubertät gilt, dass eine Gesprächstherapie, wie man sie von Erwachsenen kennt, nicht durchführbar ist. Wir arbeiten in unserer Klinik viel mehr spielerisch durch Medien. Ein Kind, das im Zuge einer Depression beispielsweise das Symptom entwickelt hat, nicht mehr schlucken zu können oder Bauchschmerzen ohne körperlichen Befund aufweist, kann versuchen, den Schmerz durch Malen, Zeichnen oder Kneten zum Ausdruck zu bringen. Durch Spielfiguren kann man problematische Familien und Schulkonstellationen nachstellen, die das Kind selbst noch nicht verstanden hat. Wir arbeiten bei der Therapie mit kleinen Kindern mit viel haptischen und visualisierbaren Materialen. Erst ab dem zwölften Lebensjahr nimmt der gesprächstherapeutische Anteil zu. Medikamente wie Antidepressiva sind ein heikles Thema bei Kindern. Zum einen, weil wir aus gut kontrollierten Studien wissen, dass Antidepressiva bei Kindern weniger wirksam sind, zum anderen, weil wir die Wirkungen auf Gehirnentwicklung nicht so gut kennen. Jugendliche hingegen profitieren auch von Medikamenten.
Immer mehr Kinder und Jugendliche nehmen Psychotherapie in Anspruch. Laut dem Arztreport 2021 gab es von 2009 bis 2019 eine 104-prozentige Steigerung des Bedarfs. Haben wir genügend Therapieplätze? An der großen Zahl der gestiegenen Inanspruchnahme von Therapieplätzen für Kinder sehen wir zunächst einmal, dass die Aufmerksamkeit für das Thema Depressionen und andere psychische Erkrankungen bei Kindern gestiegen ist. Das muss nicht heißen, dass aufgrund schwieriger Lebensumstände tatsächlich deutlich mehr Kinder erkranken. Es ist zunächst einmal gut, dass so viele Eltern sich heute Hilfe holen. Durch die Auswirkungen der Coronakrise wird die Aufmerksamkeit auf das Thema noch mehr steigen und mit ihr die Anzahl der benötigten Therapieplätze. Das wissen wir aus anderen Krisenregionen: Die Bereitschaft, sich gesellschaftlich psychischen Krisensituationen zu stellen und sie anzuerkennen, hat eine entstigmatisierende Wirkung. Das beobachten wir gerade in Bezug auf psychische Krankheiten bei Kindern. Wenn das passiert, dann muss man sagen, reichen die Therapieplätze, die wir haben, nicht aus. Zwar haben wir in städtischen Ballungszentren eine hohe Dichte an Kinder- und Jugendlichentherapeuten, in ländlichen Regionen jedoch nicht. Das muss sich schnell ändern. Auch telemedizinische Angebote müssen wir ausbauen
Welche Veränderungen wünschen Sie sich von der Politik? Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass im öffentlichen Bewusstsein, aber auch im medizinischen Service, schneller und unproblematischer für Familien abzuklären ist, ob eine psychische Störung bei meinem Kind vorliegt oder nicht. Der Kinder- und Jugendpsychiater sollte wie ein Kinderarzt aufgesucht werden können. Mein Kind zu einem Kinderpsychiater zu geben, bedeutet heute mehrmonatige Wartezeiten hinzunehmen oder auf langen Wartelisten für Therapieplätze zu landen. Am Ende braucht es mehr Angebote für eine schnelle Diagnostik und gute Weichenstellung.