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Weiblich und obdachlos in Wien: "Sie behandeln dich wie Freiwild"

Sieben Jahre lang hat Gabi* auf der Straße gelebt. Mittlerweile arbeitet sie selbst als Betreuerin in einem Frauennachtquartier. Mit der WIENERIN sprach sie darüber, warum obdachlose Frauen oft nicht gesehen werden und wie es ihr gelungen ist, sich selbst nie aufzugeben.



Im Sommer schläft Gabi* zwischen Sträuchern in der Venediger Au – dort, wo sie keiner sehen kann. Im Winter in leerstehenden Eisenbahnwagons oder Abbruchhäusern. Als sie obdachlos wird, ist Gabi gerade einmal 19. Sieben Jahre verbringt sie auf der Straße. Heute ist sie 52, hat wieder eine eigene Wohnung und nützt ihre Erfahrungen beruflich als Betreuerin in einem Nachtquartier für obdachlose Frauen. Hier, an einem der Tische im Speisesaal des Quartiers, findet auch das Gespräch mit Gabi statt. Sie erinnert sich an ihre Zeit auf der Straße, erzählt von den Ungerechtigkeiten, mit denen obdachlose Frauen zu kämpfen haben und der psychischen Belastung, die das Leben ohne fixen Wohnsitz oft mit sich bringt.


*Name von der Redaktion geändert

 

Unterschied zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit:

Obdachlosigkeit: Als obdachlos bezeichnet man Menschen, die ohne Unterkunft auf der Straße oder öffentlichen Plätzen leben, sich etwa in Verschlägen, Parks oder unter Brücken aufhalten. Der Begriff umschließt aber auch Personen, die keinen festen Wohnsitz haben und in Wärmestuben, Notschlafstellen und vergleichbaren Einrichtungen übernachten.

Wohnungslosigkeit: Wohnungslose Menschen sind ohne eigene Wohnung, nicht aber ohne Obdach. Sie leben vorübergehend bei Freund*innen oder Bekannten oder in Einrichtungen bzw. Wohnungen der Wohnungslosenhilfe. Als wohnungslos gelten auch Immigrant*innen und Asylwerber*innen, die in Auffangstellen, Lagern, Heimen oder Herbergen wohnen, bis ihr Aufenthaltsstatus geklärt ist.


Mehr dazu unter www.obdach.wien

 

Sorgsam rückt Gabi ihre Brille zurecht, als sie beginnt, von ihrer Jugend zu erzählen. Sie trägt Jeans und eine Kapuzenweste, die grauen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Gabi ist im zehnten Bezirk in Wien aufgewachsen. Eine waschechte "Sankt-Favoritnerin", wie sie sagt. Die Hauptschule besucht sie bis zur vierten Klasse. Ihr Ziel: So schnell wie möglich von zuhause ausziehen. "Ich hab’ keine Ausbildung gemacht, weil ich gesagt hab’: Lehrstelle – da kann ich mir keine Wohnung leisten. Ich hab’ mich in der letzten Klasse auch recht blöd aufgeführt, weil ich arbeiten gehen wollte und die Schule mich einfach nimmer interessiert hat. Ich bin mit sechs Fünfern ausg'stiegen, das heißt, Lehrstelle war sowieso keine Option mehr. Aber mir war auch lieber, im Lager zu arbeiten – da hast am meisten verdient."

 

Der letzte Ausweg

Der Traum von der eigenen Wohnung wird allmählich zum Alptraum: Regelmäßig erfährt Gabi in ihren eigenen vier Wänden häusliche Gewalt. Bald hält sie es nicht mehr aus: "Ich hab’ einfach Probleme gehabt, bin geschlagen worden, bin heruntergemacht, beschimpft worden. Ich wurde verbal und körperlich sehr schlecht behandelt und derjenige, der das gemacht hat, den hab’ ich nicht rausgekriegt aus der Wohnung. Mein Fehler war, ich hab’ nix umg'schrieben und alles auf meinen Namen weiter rennen lassen. Und mir dann eben einen Schlafplatz auf der Straße gesucht."


Ich bin geschlagen worden, bin heruntergemacht, beschimpft worden. Ich wurde verbal und körperlich sehr schlecht behandelt und derjenige, der das gemacht hat, den hab’ ich nicht rausgekriegt aus der Wohnung. - Gabi*

 

Die Jahre, in denen Gabi kein Zuhause hat, verbringt sie vor allem im und um den Wiener Prater: "Was macht man den ganzen Tag? Erst einmal wirst du aufgeweckt von den 'kleinen Besuchern', den Ratten – wo man dann bald draufkommt, dass die in Wahrheit mehr Angst haben als du. Dann fährst ein bisserl mit Sachen umadum – im Prater hat man bei vielen Fahrgeschäften gratis fahren können als Mädel. Man trifft Freunde – ich hab’ eine Gruppe kennengelernt, mit der ich dann viel unterwegs war. Hier und da haben wir Picknick gemacht auf der Praterwiese – einfach, weil wir Lust drauf hatten. Das war toll, wir hatten einen Ghettoblaster und alles", erinnert sich die Wienerin lächelnd. "Am Wochenende geht man in ein Lokal – im Prater hat's ein Tanzlokal 'geben, wo wir meistens waren. Das macht man so den ganzen Tag ... und geht halt ein bisserl schnorren, um Geld aufzutreiben.".


"Hunger tut weh"

Vieles ist lustig in der Zeit, sagt sie. Jedoch gibt es auch sehr schwere Phasen – vor allem, wenn der Hunger immer größer wird: "Das Schlimmste waren die Männer, die dich, wenn du sie ang‘schnorrt hast, abwertend angeschaut und gesagt haben: 'Du, da gibt‘s ein Hotel …'. Sie behandeln dich wie Freiwild, wenn sie mitbekommen, dass du obdachlos bist. Ich glaube, das ist auch heute noch so".

Nicht immer gelingt es ihr, sich mit Schnorren über Wasser zu halten: "Ich hab’ zwischendurch versucht, zu arbeiten. Ich hab’ mich auch prostituiert zeitweise, weil ... ich sag immer, 'Hunger tut weh'. Es hat halt Tage gegeben, wo du nix gehabt hast - und dann macht man halt sowas, dass man wieder was essen kann."


"Ich wusste: Es kann nur besser werden. Schlimmer geht’s nicht“

Auf der Straße zu leben, belastet nicht nur körperlich, sondern auch mental, sagt Gabi: "Ich tu's vielleicht verharmlosen mit dem Prater, aber es hat schon Zeiten 'geben ... ich mein', ich hab’ mich freiwillig in den Häf‘n g'setzt, dass ich überleb im Winter. Und ich hab’ einen Hass auf meine Familie gekriegt. Weil ich mir dachte: 'Wo war die Liebe von ihnen in dieser Zeit? Oder vorher?' Oft sitzt man da und heult und bemitleidet sich selbst. Oft hab’ ich gedacht, 'Ich mag nimmer, ich spring von der Brücke' – aber ich hab mir dann immer wieder zugeredet: 'Nein, ich muss es rausschaffen!' Es ist wirklich ein schwieriger Kampf."


Ich hab’ mich freiwillig in den Häf‘n g'setzt, dass ich überleb im Winter. - Gabi*

 

Das Sich-Selbst-Aufgeben durch den Freitod erlebt Gabi in ihrem Umfeld mehr als einmal: "Manchmal bin ich gesessen und hab mich gefragt, ob ich nachgehen soll. Ich wusste: Es kann nur besser werden. Schlimmer geht’s nicht. Aber wenn ich sie dann so liegen gesehen hab, hab’ ich gedacht, 'Nein, ich muss kämpfen'." Zu diesem Zeitpunkt hat Gabi bereits zwei Kinder. Obwohl sie nicht bei ihr leben, sind sie ihre Motivation, weiterzumachen. "Ich hab’ mich gefragt: Was hinterlasse ich ihnen? Was erzählen sie denen? Ich hab’ mich umgebracht, weil ich das Leben nicht gepackt hab? Das ist für ein Kind nicht einfach".

 

Es gibt sie, die obdachlose Frauen – wir sehen sie nur nicht

Viele von Gabis Freund*innen wissen zu dieser Zeit nicht, dass sie obdachlos ist: "Ich hab’ immer g'schaut auf mich, dass ich sauber bin, dass mein Gewand sauber ist. Am Praterstern gab's so Schließfächer – da hast du 10 Schilling reingeschmissen und wenn du das Kastl nach 10 Stunden wieder aufgemacht hast, hast du die 10 Schilling wieder zurückgekriegt. Und gewaschen hat man sich halt am Klo. Wenn wir uns auf‘d Nacht getrennt haben, ist jeder heimgegangen und ich bin offiziell auch heimgegangen 'in meine Wohnung'."

Dass sie sich gegenüber ihren Freund*innen nicht öffnen konnte, lag am fehlenden Selbstbewusstsein, sagt sie heute: "Das ist mir leider in meiner Kindheit genommen worden. Ich hab’ einfach Angst gehabt, dass sie mich nicht mehr wollen. Dass ich aus der Gruppe ausgeschlossen werde, dass ich die Freunde verlier. Und das ist das Wichtigste in der Obdachlosigkeit – dass man Freunde hat. Dass man jemanden hat, bei dem man sich anlehnen kann, wo man auch einmal heulen kann, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist. Das braucht man einfach."


Das ist das Wichtigste in der Obdachlosigkeit – dass man Freunde hat. Dass man jemanden hat, bei dem man sich anlehnen kann, wo man auch einmal heulen kann, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist. - Gabi*

 

So wie Gabi bemühen sich viele Frauen, ihr Schicksal zu verbergen: "Man schämt sich. Eine Frau oft mehr als ein Mann. Wobei – mittlerweile die Männer auch mehr als früher. Wie hab’ ich das geschafft, dass ich‘s nicht zeige? Ich hab’ nix getrunken. Ich war keine Alkoholikerin und hab keine Drogen genommen – weil wenn man damit anfängt, ist dir meistens wurscht, wie du ausschaust. Viele Frauen gehen auch Zweckbeziehungen ein und schauen halt, dass sie irgendwo schlafen können. Also es ist nicht so, dass das Frauen nicht betrifft“.

 

Gewalt wird zur Normalität

Gabi verlässt damals ihre Wohnung, um der häuslichen Gewalt zu entkommen. Doch auch auf der Straße ist sie vor Übergriffen nicht sicher: "Die Gewalt gegenüber obdachlosen Frauen ist einfach sehr stark ausgeprägt. Also entweder du hast eine 'kriegt oder man ist vergewaltigt worden, weil.... was willst du denn machen? Du bist obdachlos. Auf die Polizei gehen bringt ja nix. Machst eine Anzeige – wo schicken sie deinen Brief hin? Heute ist es vielleicht nimmer so arg, ich weiß nicht. Aber früher war's so.“

Die Gewalt gegenüber obdachlosen Frauen ist sehr stark ausgeprägt. Also entweder du hast eine 'kriegt oder man ist vergewaltigt worden, weil: Was willst du denn machen? Du bist obdachlos.

Gabi*

 

Dass es mittlerweile eigene Quartiere nur für Frauen gibt, findet Gabi ganz wichtig. Damals in den Achtzigern war die Situation noch eine völlig andere: "Früher gab's nur gemischtgeschlechtliche Einrichtungen– da war ich genau einmal und nie wieder. Wenn du als Frau in sowas gegangen bist, bist direkt angepöbelt worden, angemacht, belästigt worden. Wennst das nicht willst, darfst da nicht rein".


Hilfe annehmen – auch, wenn’s schwerfällt

Als Betreuerin in einem Frauennachtquartier arbeitet Gabi heute selbst an und für eine bessere Situation obdach- und wohnungsloser Frauen. In ihrem beruflichen Alltag setzt sie praktisch mit jedem Handgriff feministische Ziele um; unterstützt jene, die von der Gesellschaft viel zu oft nicht gesehen werden. Mit dem Wort "Feminismus“ als solches kann sie nicht viel anfangen, aber was macht das schon, wenn das Ergebnis auf Gleichstellung und Solidarität ausgerichtet ist.

Gabi hat inzwischen auch wieder eine eigene Wohnung. Der Weg dorthin war nicht leicht: "Man kann sich kurz fallen lassen, sich bemitleiden. Aber dann gib dir selbst einen Tritt und steh wieder auf! Man kann's schaffen und man kann stark werden! Man darf nur nicht aufgeben. Man soll sich einfach selbst vertrauen, dass man's schafft. Und: Lass dir helfen. Allein ist's schwer."

 

Feminismus ist für alle da!

Es geht nicht nur um Quotenregelungen und Aufsichtsrätinnen: Feminismus muss auch jene meinen, die nicht privilegiert sind und auf Grund ihrer Lebenssituation an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. In dieser Reihe anlässlich des Internationalen Frauenkampftages stellt die WIENERIN im März 2020 fünf Frauen im Porträt vor, über deren Lebensrealität viel zu wenig gesprochen wird.

 

Hilfe für obdachlose Frauen in Wien:

Der Verlust der eigenen vier Wände kann jede*n treffen. Die Gründe dabei sind vielfältig. In einer Befragung des Fonds Soziales Wien aus dem Jahr 2016 nannten die Betroffenen (weiblich und männlich) als Ursachen unter anderem Jobverlust und dadurch entstehenden Mietrückstand (42%), Trennung oder Scheidung (32%) und Probleme mit der psychischen (23%) oder physischen (21%) Gesundheit.


Tendenziell gehen Frauen mit der Obdach-/Wohnungslosigkeit anders um als Männer: Sie versuchen so lange wie möglich, ihre Situation zu verbergen und eine scheinbare Normalität aufrecht zu erhalten. Sie suchen eher bei Familienmitgliedern, Freund*innen oder Bekannten Unterstützung als bei sozialen Einrichtungen. Damit sind sie auf den guten Willen anderer angewiesen und begeben sich so in eine verdeckte Wohnungslosigkeit. Manchmal gehen sie auch Zweckpartnerschaften ein, um ein Dach über dem Kopf zu haben – was Gefahren mit sich bringen kann: Oftmals erwarten Partner gewisse Gegenleistungen und/oder die Unterordnung der Frauen. Das endet nicht selten in körperlicher oder sexueller Gewalt.

In Wien gibt es einige Angebote, mit denen speziell Frauen in der Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit unterstützt werden, zum Beispiel:


·       Obdach Ester: Das Obdach Ester (Angebot von Obdach Wien) steht Frauen und Kindern 365 Tage im Jahr offen. Die Einrichtung verfügt über Duschen, eine Waschmaschine mit Trockner, eine Küche und einen Ruheraum. Eine Anmeldung ist nicht notwendig. Das Angebot ist kostenlos.

·       Obdach Favorita: Rund 50 Frauen bietet das Obdach Favorita (Angebot von Obdach Wien) in den Wintermonaten ein Bett für die Nacht.

·       FrauenWohnZentrum: Das FrauenWohnZentrum ist eine Einrichtung der Caritas und bietet 32 Plätze für Frauen über 18 Jahren in akuten Notsituationen an, die keine Unterkunft haben.

·       Haus Miriam: Im Haus Miriam der Caritas gibt es 40 Wohnplätze in Einzel- und Zweibettzimmern für Frauen, die sich in einer akuten Notlage befinden.

·       JUCA: Im JUCA, eine Einrichtung der Caritas für junge Erwachsene, stehen im Notquartier vier Plätze für Frauen von 18 bis 30 Jahren zur Verfügung.

·       Notquartier Plus: Das Notquartier Plus im Rupert Mayer Haus bietet erkrankten obdachlosen Frauen Unterkunft und Schutz. Anders als bei anderen Notquartieren, können die Frauen den ganzen Tag bleiben. Sie bekommen ärztliche Behandlung und Verpflegung, bis sich der Gesundheitszustand bessert. Die Zuweisung ins Notquartier Plus erfolgt durch das P7 – Wiener Service für Wohnungslose.


Frauen-Helpline:

Die Frauenhelpline gegen Gewalt bietet rund um die Uhr gratis und anonym telefonische Erst- und Krisenberatung für Frauen, Kinder und Jugendliche, die von Gewalt betrof­fen sind: 0800/222 555.

 

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