Um möglichst lange gesund zu bleiben, ist es essenziell, die eigene Gesundheitsvorsorge im Blick zu haben und regelmäßig Untersuchungen wahrzunehmen. Während für viele Routine- und Vorsorgeuntersuchungen nichts anderes als einen weiteren Termin im Kalender darstellen, können sie für andere Grund zur Sorge und Verunsicherung sein.
Wer nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehört, speziell, wer nicht heteronormativen Erwartungen entspricht, wird oft von der Angst begleitet, im ärztlichen Kontext Diskriminierung oder unsensible Behandlung zu erfahren. Leider seien diese Ängste oft nicht unbegründet und unsensible Behandlung durch medizinisches Personal ein ernstzunehmendes Problem, erklärt Dr. med.univ. Stephanie Kacerovsky-Strobl, Chirurgin am Wiener AKH und Mitglied der MUW Regenbogengruppe:
WIENERIN: Stimmt es, dass Menschen der LGBTIQ+-Community seltener zu Vorsorgeuntersuchungen gehen? Woran liegt das?
Stephanie Kacerovsky-Strobl: Ja, das stimmt. Fundierte wissenschaftliche Daten gibt es dazu leider keine, aber wir wissen aus Erfahrung, dass Personen mit LGBTIQ+-Hintergrund seltener Ärzt*innen aufsuchen. Das liegt vor allem daran, dass in der Gesprächsführung sehr häufig das Vertrauensverhältnis fehlt, weil von Kolleg*innen eine heterosexuelle Orientierung vorausgesetzt wird. Das gibt den Menschen das Gefühl, sie würden als Personen nicht wahrgenommen, Teilbereiche ihrer Persönlichkeit oder ihres Lebens werden nicht mit beleuchtet. Das heißt also auch, dass eine offene Gesprächsführung nicht möglich ist.
Das hängt wiederum damit zusammen, dass die LGBTIQ+-Community in unserer Sprache allgemein zu wenig Berücksichtigung findet. Ich glaube, genau das ist die große Aufgabe von Events wie der Pride Week und Awareness Veranstaltungen, wie wir sie im Rahmen der Regenbogengruppe auch am AKH regelmäßig durchführen: Immer wieder darauf aufmerksam machen, dass Menschen der LGBTIQ+-Community durch unsere Sprache inkludiert werden müssen.
Ich beobachte in meinem eigenen beruflichen Alltag immer wieder, dass Menschen mit LGBTIQ+-Hintergrund regelrecht dankbar dafür sind, wenn man eine inklusive Sprache anregt und sie nicht dazu zwingt, ihre sexuelle Orientierung offenzulegen, indem man als Behandler*in eine heterosexuelle Orientierung voraussetzt.
Gibt es medizinische Bereiche, in denen besondere Sensibilität angebracht wäre – diese oftmals aber leider noch fehlt?
Wir wissen, dass bei Frauen der regelmäßige Besuch beim*bei der Gynäkolog*in extrem wichtig ist, wo ein höchst sensibler Körperbereich untersucht wird. Wenn dies nicht in einem vertrauensvollen Setting stattfindet, wird man die entsprechenden Gynäkolog*innen bald nicht mehr aufsuchen. Immer wieder werden auch gesundheitliche Aspekte nicht bedacht. Etwa, dass natürlich auch lesbische Frauen einer HPV-Impfung unterzogen werden müssen, auch wenn sie keine heterosexuellen Kontakte haben oder jemals hatten.
Oder die Frage nach der Verhütung. Sagt eine Frau, sie verhütet nicht hormonell, lautet die nächste Frage oft "Wie verhüten sie denn dann? Mit Kondom?". Antwortet sie dann "Nein, das verwende ich auch nicht" sorgt das schnell für große Verwunderung und endet und letztendlich darin, dass die Patientin dazu gezwungen wird, sich in dieser Situation zu outen, weil der*die Gynäkolog*in nicht bedenkt, dass es sexuelle Orientierungen gibt, wo eine Kontrazeption nicht nötig ist, da eine Schwangerschaft nicht eintreten kann, wenn zwei Frauen miteinander schlafen.
Auch urologische Untersuchungen: Männer, die nach ihren sexuellen Praktiken gefragt werden oder auch nicht gefragt werden, weil einfach vorausgesetzt wird, dass sie mit Frauen sexuellen Kontakt unterhalten. Vielleicht kommt es zu Erkrankungen im Rektalbereich, die wie auch immer entstehen und Menschen sind gezwungen, ihre sexuelle Orientierung offenzulegen, um in weiterer Folge eine adäquate Behandlung zu erfahren. Das ist etwas, das leider immer noch mit einem Stigma behaftet ist – auch dagegen müssen wir ankämpfen.
Ein weiterer Punkt: Im Rahmen der Regenbogengruppe arbeiten wir eng mit unserer Pflege zusammen und versuchen, das Pflegepersonal für LGBTIQ+-Bedürfnisse zu sensibilisieren. Zum Beispiel, wenn eine gleichgeschlechtliche Begleitperson im Rahmen eines Ambulanzbesuches oder auch eines Krankenhausaufenthaltes auftritt - dass diese auch als Partner*in wahrgenommen, ernstgenommen und in der engen Kommunikation berücksichtigt wird und eine Informationsweitergabe stattfindet. Und zwar ohne Ressentiments und Vorurteile.
Vielleicht für all jene, die selbst nie ein Coming Out erlebt haben und sich schwertun, die Emotionslage nachzuvollziehen – warum ist hier besondere Einfühlsamkeit geboten?
Der Besuch bei einem*r Arzt*Ärztin ist immer etwas Sensibles. Meist wird ein*e Arzt*Ärztin aufgesucht, wenn es ein Problem gibt. Man befindet sich schon in einer vulnerablen, emotional aufgewühlten Phase - wenn man dann auch noch die eigene sexuelle Orientierung in einem neuerlichen Coming Out preisgeben muss, etwas, das in der Vergangenheit womöglich schon schwierig und vielleicht von negativen Emotionen begleitet war … das noch einmal erzwungenermaßen zu durchleben, ist etwas, das man absolut vermeiden muss. Die Ordination sollte wirklich nicht der Ort sein, wo man sich outen muss.
Das zu vermeiden, geht zum Glück sehr einfach, indem man sprachlich vorsichtig agiert und somit niemandem aufoktroyiert, sich outen zu müssen, nur weil man als Behandler*in diese sprachliche Sensibilität nicht an den Tag legt. Tut man das allerdings, so baut man relativ schnell ein Vertrauensverhältnis auf, was letztendlich auch dazu führt, dass eine offene Kommunikation mit dem*r Patienten*in stattfindet, wodurch auch eine bessere Behandlung möglich ist.
Patient*innen, die bei der Erstkonsultation eines Arztes oder einer Ärztin schlechte Erfahrungen machen, werden eine Folgeuntersuchung dort aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr machen. Das bedeutet Behandlungsverzögerungen und kann natürlich auch gerade im Hinblick auf schwerwiegendere Erkrankungen wie Krebserkrankungen einen Impact auf das Überleben haben.
Eigentlich schockierend, dass es da im Jahr 2021 noch so viel Aufholbedarf gibt …
Vielen Menschen in unserer Gesellschaft ist nach wie vor nicht bewusst: Zehn Prozent der Normalbevölkerung haben einen LGBTIQ+-Hintergrund. Dass wir Mitglieder der Community so unsichtbar halten, ist letztendlich ein gesellschaftspolitisches Problem, wogegen Organisationen wie die Stonewall, die HOSI und viele andere massiv auftreten. Gerade auch im Bereich der Medizin ist diese Sichtbarkeit noch nicht so durchgedrungen.
Ich erlebe das immer wieder - nicht nur bei Patient*innen, sondern auch bei Kolleg*innen der unterschiedlichen Berufsgruppen -, dass man nicht offen mit seiner sexuellen Orientierung umgehen möchte oder kann, weil man Ressentiments auch im beruflichen Kontext befürchtet. Viele Menschen glauben, dass sie durch einen offenen Umgang einen Nachteil erfahren könnten. Durch Ärzt*innen oder Pflegepersonal, die mit ihrer persönlichen Meinung nicht hinter dem Berg halten können und dann die Person eine gewisse Abneigung spüren lassen.
Das ist leider nach wie vor ein Thema und deshalb ist es wichtig, dass es Orte gibt, an die man sich wenden kann. Wir haben das jetzt auch für unsere Studierenden eingerichtet, dass wir als Regenbogengruppe eine Anlaufstelle sind, sollten Studierende das Gefühl haben, dass es aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität mit Lehrenden ein Problem gibt. Ich glaube, dass durch die vielen Veranstaltungen, die wir immer wieder machen, langsam eine gewisse Sensibilisierung stattfindet.
Statistiken zeigen, dass die Zahl psychischer Erkrankungen sowie Suizidraten bei Menschen mit LGBTIQ+-Hintergrund besonders hoch sind. Kann es sein, dass es auch hier Hemmungen gibt, professionelle Hilfe aufzusuchen?
Sie haben Recht, das ist ein wichtiges und sensibles Thema. Es gibt Daten, die zeigen, dass die Suizidrate unter LGBTIQ+-Menschen deutlich höher ist als in Vergleichsgruppen. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass das Coming Out und die Stigmatisierung durch Gesellschaft, Familie, das soziale Umfeld teilweise so stark belastend ist, dass diese Menschen als Ausweg nur mehr den Suizid oder den Suizidversuch sehen, was natürlich unglaublich tragisch ist. Man beobachtet das vor allem im ländlichen Bereich, wo es einfach weniger Einrichtungen gibt, weniger Menschen gibt, die einen auffangen können. Das Gefühl, völlig alleine zu sein, ist hier oft besonders groß.
Mittlerweile gibt es glücklicherweise einige Hilfseinrichtungen, die da tolle Arbeit leisten, um die jungen Mitglieder unserer Community ein bisschen aufzufangen und ihnen die Unterstützung zukommen zu lassen, die nötig ist. Es gibt Therapeut*innen, die sich explizit damit auseinandersetzen.
Was ich auch für wahnsinnig wichtig erachte: Es gibt Gruppen, die sich speziell an Eltern/Familien von LGBTIQ+-Jugendlichen wenden, um auch denen Unterstützung zukommen zu lassen. Selbsthilfegruppen, wo Eltern und Familien sich treffen können, ihre Erfahrungen austauschen und auch das halte ich für sehr sinnvoll und ist etwas, das sehr gut angenommen wird. Es ist so wichtig, dass Menschen wissen, dass es Hilfestellungen gibt, die auf sehr unbürokratischem und kurzem Weg in Anspruch genommen werden können.
Wie finden Menschen, die sich der LGBTIQ+-Community zugehörig fühlen, geeignete Behandler*innen?
Es gibt vonseiten der Community Plattformen, auf denen Ärzt*innen namhaft gemacht werden, die sich besonders sensibel bzw. besonders mit dem Thema der LGBTIQ+-Community auseinandersetzen. Ich habe auch immer wieder versucht, das mit Organisationen wie der HOSI in Wien voranzutreiben. Ein Netzwerk aufzubauen, wo sich Kolleg*innen im niedergelassenen sowie im Spitalsbereich klar deklarieren, sodass Patient*innen wissen, man kann bei ihnen ohne sprachliche Barrieren oder Ressentiments offen miteinander sprechen; dass es hier nicht einer Aufklärung des Behandlers*der Behandlerin bedarf, wie denn die sexuelle Praktik ist, ob man jetzt die eine oder andere Vorsorgeuntersuchung benötigt oder nicht und welche Risiken es für welche Erkrankung gibt – denn das ist nicht Aufgabe der Patient*innen, das muss dem Arzt*der Ärztin einfach klar sein. Solche Plattformen gibt es mittlerweile und ich halte es für sehr wichtig, dass man diese weiter vorantreibt.
Wichtige Anlaufstellen:
Dr. med.univ. Stephanie Kacerovsky-Strobl steht gerne für Fragen zur Verfügung. Ihr erreicht sie unter stephanie.strobl@meduniwien.ac.at.
Die Homosexuelle Initiative (HOSI) bietet verschiedene Unterstützungs- und Vernetzungsangebote für LGBTIQ+-Menschen und deren Angehöre. Weitere Infos gibt's hier.
Auf queermed.at findet ihr ein stetig wachsendes Register an queer & trans friendy Ärzt*innen, Psycholog*innen & Co.
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