Von Luise Binder und Teresa Stiens
Tilmar Fecker scheint zu groß für seine Umgebung. Mit fast zwei Metern Körpergröße, dem Harley-Davidson-Pullover und den tätowierten Armen wirkt er in seinem zehn Quadratmeter großen Zimmer mit den selbst gemalten Bildern fehl am Platz. Der Raum erinnert an eine Gefängniszelle. Aber er ist keine und das ist entscheidend.
Anfang Juli wurde Fecker aus der Haft entlassen. Drei Suizidversuche hat der ehemalige Zuhälter im Gefängnis hinter sich und doch: "In den ersten drei Tagen in Freiheit habe ich überlegt, ob ich freiwillig wieder zurück gehe", sagt der 52-Jährige. In der Gefängniswelt kannte er sich aus. 17 Jahre seines Lebens hat er dort verbracht. Draußen war er überfordert. "Sie entlassen tickende Zeitbomben", sagt Fecker und meint damit auch sich selbst.
"Das Gefängnis macht die Menschen gefährlicher", sagt auch Thomas Galli. Ob Vergewaltiger, Mörder, Drogendealer oder Kleinkriminelle - Galli hat sie alle gesehen und beschreibt in seinem neuen Buch Die Schwere der Schuld, was der Knast mit ihnen macht. Seit 15 Jahren arbeitet Galli in Gefängnissen, zuletzt als Leiter der Justizvollzugsanstalt (JVA) im sächsischen Zeithain. Immer sehe er die gleichen Gesichter hinter den Mauern wieder. Dabei sollte das Gefängnis sie auf ein straffreies Leben in der Gesellschaft vorbereiten - Experten nennen das Resozialisierung. Als Anstaltsleiter soll Galli dafür sorgen, doch: "Meiner Meinung nach torpediert der Strafvollzug dieses Ziel", sagt Galli.
Jeder zweite Straftäter wird rückfälligJeder zweite Straftäter wird rückfällig
Die aktuelle bundesweite Rückfalluntersuchung des Bundesjustizministeriums bestätigt seinen Eindruck: Jeder zweite Straftäter wird innerhalb von neun Jahren wieder rückfällig. Das bedeutet: die Resozialisierung funktioniert nicht. Dabei wurde sie per Bundesgesetz 1977 als oberstes Ziel des Strafvollzugs festgelegt. Das änderte sich jedoch im Jahr 2006 im Zuge der Föderalismusreform. Seither ist die Regelung des Strafvollzugs Ländersache. 14 von 16 Bundesländern haben nun ihre eigenen Regelungen. Die meisten Länder änderten den Fokus, weg von der Resozialisierung hin zum Schutz der Allgemeinheit. "Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden", sagt Kriminologe Helmut Kury. "Aber ewig wegsperren kann auch nicht die Lösung sein."
Ob ein Gefangener auf seine Entlassung vorbereitet wird, ist also Glückssache - je nachdem in welchem Bundesland er inhaftiert ist. "Der Strafvollzug sollte wieder auf Bundesebene geregelt werden", findet Halina Wawzyniak, rechtspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag. Doch der Strafvollzug ist von der politischen Agenda verschwunden. "Es ist ein Nischenthema", sagt sie.
"Die Justiz will einfach nicht über ihre Grundlagen nachdenken", sagt JVA-Leiter Galli. Er ist nicht gegen Bestrafung im Allgemeinen. Es geht ihm um das Wie. Obwohl Galli als Anstaltsleiter selbst Teil des Systems ist, spricht er sich gegen die reine Verwahrung von Gefangenen aus. Diese These vertritt er auch in seinem Buch. Was die Justizministerien davon halten, haben sie deutlich gemacht. Seine Lesungen in JVAs in Sachsen und Bayern sagten die zuständigen Behörden kurzfristig ab.
Im Regelvollzug kämen auf einen
Psychologen etwa 200 Insassen, sagt Kriminologe Kury. Für mehr Personal gebe es
kein Geld. "Dabei würden wir langfristig Geld sparen, wenn wir die Leute besser
resozialisieren und früher entlassen könnten." Das zeigten Kostenrechnungen aus
den USA, so Kury. Er wolle jedoch nicht nur meckern, sagt er. Er sehe auch Bewährungshelfer,
die ihre Klienten schon vor der Entlassung besuchen und ihnen so einen besseren
Übergang ermöglichen. "Doch da muss man noch mehr tun." Denn wenn ein Bewährungshelfer 80 bis 100
Klienten betreut, ist es kaum möglich, dass er sich jedem intensiv widmet.
Die Sozialarbeiterin und Kriminologin Angelika Lang hat vor vier Jahren
ihr eigenes Netzwerk, Set Free, für Häftlinge
gegründet. Der ehemalige Häftling
Fecker konnte über das Netzwerk vor seiner Entlassung Kontakte zu
Mitgliedern
einer christlichen Gemeinde aufbauen. "Sie sind mein Auffangnetz, ohne
sie
hätte ich niemanden", sagt Fecker. "Ich konnte ja keine Anzeige aufgeben
'Suche soziales Umfeld'". Ohne Freunde und Familie fallen die
Häftlinge schnell in alte Gewohnheiten zurück. Drogenkonsum, Spielsucht
und der
direkte Rückweg ins Gefängnis sind die Folge. Auch Tilmar Fecker will
sich in
Zukunft bei Set Free engagieren, denn als ehemaliger "Knasti" kennt er
die
Probleme und genießt Respekt.
Denn viele entlassene
Straftäter kämen nur zu den Treffen des Netzwerkes, wenn ein
Ex-Häftling dabei ist. In der Szene sei Loyalität sehr wichtig, sagt
Lang. Die Normen der Subkultur könne man neu definieren, aber nur mit
Menschen, die selbst Teil davon waren. Set Free
ist ausschließlich über Spenden finanziert, das Geld reicht kaum. Der
Verein stützt sich auf das Engagement von etwa 40 Ehrenamtlichen.
Ein Haftplatz in NRW kostet 40.000 Euro
Ähnlich erging es dem Kölner Projekt "Resozialisierung und soziale
Integration", kurz Resi. "Wir hatten eine extrem niedrige Rückfallquote", sagt
Almut Groß von der Jugendhilfe Köln. Das Projekt brachte jugendliche
Ex-Häftlinge und Sozialarbeiter zusammen, die rund um die Uhr erreichbar waren.
Nur zwei der beteiligten 26 Jugendlichen landeten wieder hinter Gittern.
Trotzdem musste Resi seine Arbeit 2012 einstellen – aus Geldmangel. Dabei
kostete das Programm nur 8.300 Euro pro Teilnehmer jährlich. Ein Haftplatz in
NRW kostet dagegen 40.000 Euro.
Der Staat gibt für den Strafvollzug
jährlich etwa vier Milliarden Euro aus. Viel Geld, vor allem wenn das oberste
Ziel misslingt: die Resozialisierung. Das bayerische Justizministerium weist
diesen Vorwurf zurück. "Übergangsmanagement" nennen sie ihren Beitrag zur
Resozialisierung der Gefangenen, also die Vorbereitung
auf die Entlassung aus der JVA.
Wenn ein Häftling jedoch erst eine Woche vorher von seiner Entlassung erfährt, dann gibt es da nicht mehr viel zu managen. So war es bei Tilmar Fecker. Er ist mittlerweile froh, das Gefängnis hinter sich gelassen zu haben. Doch damit das so bleibt, braucht er Unterstützung. Denn er will keine Gefahr mehr sein. Nicht für andere und auch nicht für sich selbst.