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Flüchtlingsheime: Eine Frage des Abstands

Ende März, als in Bayern längst strenge Kontaktsperren gelten und die Menschen in ihren Häusern und Wohnungen Schutz vor dem Coronavirus suchen, sitzt Claire Gabin in einem Flüchtlingsheim in Geldersheim bei Schweinfurt. Mit ihr leben dort knapp 600 Menschen, offenbar so dicht gedrängt, dass viele schwer Abstand zueinander halten können. Sieben Bewohner haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit Covid-19 angesteckt, weshalb im Heim eine Ausgangs- und Besuchssperre verhängt wird. Niemand darf mehr rein. Und Claire Gabin darf nicht mehr raus. Drei Wochen später haben sich mehr als hundert Heimbewohner infiziert. Ende April stirbt ein Bewohner an dem .

Claire Gabin ist Anfang dreißig, sie kommt aus der Elfenbeinküste. Ihren echten Namen will sie nicht nennen, sie fürchtet, ihr könnten dadurch Nachteile beim Asylverfahren entstehen. Man darf Gabin in diesen Tagen nicht besuchen, aber man kann sie über einen Videoanruf erreichen. Sie hat ein buntes Tuch über die Schultern geworfen, ihre dunklen Haare sind locker nach hinten gebunden. Sie läuft über den Hof ihres Heimes, man sieht Gruppen von Männern, die dicht beieinandersitzen. Mehrere Menschen teilen sich hier Zimmer und Toiletten. Abends in der Gemeinschaftsküche komme es oft zu Gedränge, erzählt Gabin.

Wer in Gabins Heim positiv auf das Virus getestet wird, kommt in ein separates Gebäude. Das Heim verlassen darf nur, wer sich schon infiziert hat und nach zwei Wochen Quarantäne nicht mehr ansteckend ist. Doch weil es immer neue Fälle gibt, verlängert sich die Ausgangssperre für alle anderen jedes Mal um zwei Wochen. Kürzlich kam es zu Ausschreitungen mit der Polizei, weil Bewohner gegen die Quarantäne protestierten. Claire Gabin sagt: "Ich fühle mich hier wie im Gefängnis."

Die deutsche Bevölkerung ging in den vergangenen Monaten auf Distanz, Asylbewerber in den Gemeinschaftsunterkünften konnten das oft nicht. Und während in ganz Deutschland nun das öffentliche Leben langsam wieder hochfährt, haben allein die bayerischen Gesundheitsämter mehr als 20 Asylunterkünfte unter Quarantäne gestellt. Sie wollen verhindern, wovor Flüchtlingsorganisationen seit Wochen warnen: dass Flüchtlingsheime zu Seuchenherden werden.

Wie schnell das passieren kann, legt eine Studie nahe, die Forscher der Uni Bielefeld Ende dieser Woche vorstellen. Der ZEIT liegt eine Vorabversion vor. Darin heißt es, in Asylunterkünften verbreite sich das Virus ähnlich schnell wie auf Kreuzfahrtschiffen. Laut Bayerischem Innenministerium hatten sich allein in Bayern bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe 1.486 Menschen in Asylunterkünften mit dem Virus angesteckt. In Regensburg gab es kürzlich innerhalb einer Woche derart viele infizierte Asylbewerber, dass die Obergrenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner deutlich überschritten wurde. Auch andere Bundesländer melden immer wieder Ausbrüche. In einer Unterkunft im baden-württembergischen Ellwangen etwa infizierten sich rund 250 von insgesamt 600 Bewohnern, in einem Heim bei Bonn wurden über 150 von 500 Bewohnern positiv getestet.

In der Corona-Krise könnte sich rächen, dass Asylbewerber vielerorts in Massenunterkünften untergebracht werden. Vor allem in , wo in sogenannten Anker-Zentren mitunter mehr als tausend Flüchtlinge bis zum Ende ihres Asylverfahrens festgehalten werden. Der Bayerische Flüchtlingsrat hat nun Strafanzeige gegen das Bayerische Innenministerium und die Bezirksregierungen gestellt - die Unterbringung in den Ankerzentren verstoße gegen die Corona-Verordnungen der Landesregierung. Asylbewerber sollten stattdessen in kleinere Unterkünfte gebracht werden, notfalls in Hotels, die wegen der Pandemie leer stehen. Das Innenministerium weist die Vorwürfe zurück. Es seien ausreichend Schutzmaßnahmen in den Einrichtungen getroffen worden.

Anderswo sind Asylbewerber selbst vor Gericht gezogen. Etwa im sächsischen Dölzig, wo in einer Sammelunterkunft knapp 400 Flüchtlinge leben. Einer von ihnen hatte Ende April im Eilverfahren beantragt, aus dem Heim entlassen zu werden, weil er sich dort nicht vor dem Virus habe schützen können. Das Verwaltungsgericht Leipzig gab ihm recht, er wurde in eine Einzelwohnung verlegt.

Inzwischen haben sich die Zustände in Dölzig etwas verbessert: Die Flüchtlinge bekommen Seife ausgehändigt, und statt in der Kantine sollen sie in ihren Zimmern essen. Wirklich schützen könne man sich trotzdem nicht, sagt der Iraner Mohsen Farzi Zadeh, der in der Unterkunft lebt. Auch er hat eine Klage eingereicht, die jedoch abgewiesen wurde. Er will nun andere Asylbewerber dazu bewegen, ebenfalls Eilanträge zu stellen.

Zadehs Anwalt Raik Höfler sagt, das Grundproblem - zu viele Menschen auf zu engem Raum - bleibe trotz der verbesserten Hygienemaßnahmen bestehen. "Das Asylgesetz in Deutschland sieht zwar vor, Asylbewerber in einer Erstaufnahmeeinrichtung unterzubringen, aber nicht, wenn sie dort Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind", sagt Höfler. "Der Staat hat eine Schutzpflicht. Die gilt für alle Menschen in Deutschland. Nicht nur für deutsche Staatsbürger."

Im bayerischen Geldersheim, in dem Heim, in dem Claire Gabin lebt, die Asylbewerberin von der Elfenbeinküste, wurde an diesem Dienstag die Quarantäne aufgehoben. Gabin darf nun wieder nach draußen - zumindest solange sich nicht wieder jemand infiziert.

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