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Respekt für direkte Demokratie

Es ist kalt an diesem Dienstagmorgen, die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt. Und ihn habe es "kalt erwischt", sagt Michael Efler, Vorstand des Bürgerbegehrens Klimaschutz, zu den rund 100 Unterstützer*innen des Volksentscheids "Berlin 2030 klimaneutral", die sich trotz Minusgraden vor dem Roten Rathaus in Mitte versammelt haben. Gleich beginnt hier die Senatssitzung und die Politiker*innen sollen mitbekommen, dass die Aktivist*innen unzufrieden sind.

Ihr Ärger richtet sich gegen die Ankündigung der Innenverwaltung von Senatorin Iris Spranger (SPD), dass ein Zusammenfallen der Berliner Wiederholungswahl mit dem Volksentscheid "eine enorme organisatorische Herausforderung" und daher "unwahrscheinlich" sei, wie Sprecher Thilo Cablitz vergangene Woche bekanntgab. Was das bedeutet, macht Michael Efler mit einem Verweis auf den Volksentscheid über die Rekommunalisierung der Berliner Energieversorgung 2013 deutlich. Der habe sechs Wochen nach den damaligen Bundestagswahlen stattgefunden und die notwendige Zustimmung von 25 Prozent der Wahlberechtigten knapp verfehlt. Obwohl 83 Prozent der Abstimmenden für das Anliegen waren, war der Volksentscheid damit gescheitert - das könnte nun auch dem Volksentscheid "Berlin 2030 klimaneutral" drohen.

Bis vergangene Woche hatten insgesamt 261 968 Menschen in einem Volksbegehren dafür unterschrieben, dass in einem Volksentscheid alle Berliner*innen über eine gesetzliche Verpflichtung des Landes Berlin abstimmen sollen, die CO2-Emissionen der Hauptstadt bis 2030 um 95 Prozent zu reduzieren. Während der Unterschriftensammelphase ging die Initiative noch fest davon aus, dass dieser Volksentscheid gemeinsam mit der Wahlwiederholung am 12. Februar stattfinden und dadurch genug Menschen an die Wahlurnen locken würde. Denn anders als 2013 gibt es inzwischen eine Neuregelung des Abstimmungsgesetzes, die vorsieht, dass ein Volksentscheid verpflichtend mit einer Wahl zusammengelegt wird - allerdings nur, wenn diese frühestens vier, spätestens acht Monate nach der Veröffentlichung des Ergebnisses des Volksbegehrens abgehalten wird.

Zwischen der offiziellen Feststellung des Gesamtergebnisses durch den Landesabstimmungsleiter Stephan Bröchler am 29. November und der Wiederholungswahl am 12. Februar liegen aber nur zweieinhalb Monate. Doch trotz der fehlenden sechs Wochen: "Der Gesetzgeber hat auch in der Begründung des Gesetzes seinen Willen zum Ausdruck gebracht, dass es ihm darum geht, die Bedingungen für direkte Demokratie zu verbessern. Das muss bei der Auslegung berücksichtigt werden", erklärt Sebastian Schlüsselburg, der für Rechtsfragen und Wahlen zuständige Abgeordnete der Linksfraktion, auf "nd"-Anfrage. Er gehe daher nach wie vor davon aus, dass beide Termine zusammengelegt werden müssen.

In der rot-grün-roten Berliner Regierung ist es vor allem die SPD, die das anders sieht, und die wohl "ein Problem mit Volksentscheiden hat", wie Ferat Koçak, klimapolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, auf der Kundgebung sagt. Dabei sei das "doch genau die Art von Aktivismus, die immer gefordert wird, während ziviler Ungehorsam kriminalisiert wird", stellt er fest. Natürlich würde das per Volksentscheid geforderte Gesetz eine Herausforderung darstellen, der Haushaltsplan müsste umgekrempelt werden, die anderen Ressorts kämen unter Druck, so Koçak.

Wahlen abzuhalten, sei dagegen "keine Zauberei, sondern eine Frage der Organisation". Ein zusätzlicher Wahlzettel mit den Abstimmungsoptionen "Ja" und "Nein" könne kein so großer Mehraufwand sein. Entweder beweise die Innenverwaltung mit dem Argument der organisatorischen Herausforderung ihre Unfähigkeit - oder es gehe um Macht, ist Koçak überzeugt. Der Sitz der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sei mit Blick auf die Neuwahl "enorm am Wackeln". Gegen einen gesonderten Wahltermin spricht seiner Ansicht nach außerdem, dass dieser wesentlich mehr kosten würde: Steuergeld, das dringend gebraucht werde für Gesundheit oder eben auch für Klimaschutz.

Wenig später stößt Klimasenatorin Bettina Jarasch (Grüne) zur Kundgebung. Sie hat nicht viel Zeit, bis die Senatssitzung beginnt, dennoch ist es ihr wichtig zu sagen, dass auch sie die Zusammenlegung der beiden Termine unterstützt. "Wir werden auf jeden Fall dafür plädieren", verspricht sie den Aktivist*innen. Schon beim Landesausschuss der Berliner Grünen am Wochenende hatte Jarasch gesagt, dass der Volksentscheid "selbstverständlich" am 12. Februar stattfinden müsse. "Wir haben nicht umsonst jahrelang dafür gekämpft, dass die direkte Demokratie gestärkt wird", erklärte sie.

Wenn die SPD den Volksentscheid nun aufschieben und die damit verbundene ehrenamtliche Arbeit von tausenden Freiwilligen missachten wolle, dürfe sie sich nicht darüber wundern, "dass die Menschen immer politikverdrossener werden", sagt Adriana Rupp von "Berlin 2030 klimaneutral". Mit den Worten Willy Brandts fordert sie die Sozialdemokrat*innen dazu auf, "mehr Demokratie" zu wagen und die Wahlen zusammenzulegen. In einem offenen Brief schlossen sich am Dienstag 50 Organisationen wie Klimaneustart, Mehr Demokratie und Fridays-for-Future-Gruppen sowie Einzelpersonen dieser Forderung an, auch um nach der Chaoswahl 2021 "das Vertrauen in die Berliner Demokratie nicht weiter zu gefährden".

Nach der Senatssitzung am Dienstag erklärte Franziska Giffey, dass der Senat sich voraussichtlich am 6. Dezember zum Volksentscheid äußern werde. Es gebe "viele Dinge, die da abzuwägen sind. Oberste Priorität ist eine reibungslose Wiederholungswahl", sagte die Regierende Bürgermeisterin. Bis spätestens 14. Dezember muss der Senat über den Termin entschieden haben. Die Senatsinnenverwaltung reagierte nicht auf eine Anfrage von "nd".

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