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Gegen die Verschwendung

Beim Gorillas-Lager wurden die Aktivist*innen von der Polizei aufgehalten Foto: Florian Boillot

Zahlreiche Mandarinen, Brötchen und Sesamringe holen Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsgruppe Aufstand der letzten Generation am Samstagvormittag aus einer Mülltonne des Supermarkt-Lieferdienstes Gorillas in der Schwedenstraße in Wedding. Alle noch genießbar. Anschließend verteilen ein Dutzend Essensretter*innen die "containerten" - also aus Abfallcontainern ent- und mitgenommenen - Lebensmittel auf dem Parkplatz eines nahe gelegenen Supermarkts an der Residenzstraße an Passant*innen.

"Die Polizei kam relativ schnell dazu und hat unsere Personalien aufgenommen, weil das Diebstahl sei", berichtet Henning Jeschke, einer der Aktivist*innen, "nd". Er hält das für eine "abstruse Situation, weil allen klar ist, dass es absolut falsch ist, dass diese Lebensmittel weggeworfen wurden", sagt er. Aufstand-Sprecherin Carla Hinrichs wurde vorübergehend in Gewahrsam genommen. Mit der öffentlichen Container-Aktion "wollen wir erneut auf die Absurdität der Lebensmittelverschwendung zu Zeiten der Klimakrise und unsere dazu gestellten Forderungen aufmerksam machen", erklärt sie.

Die Gruppe fordert von der neuen Bundesregierung - neben einer Agrarwende - ein Wegwerf-Verbot für Lebensmittel nach dem Vorbild Frankreichs. Dort dürfen Supermärkte schon seit 2016 keine genießbaren Nahrungsmittel mehr wegwerfen, sondern müssen sie spenden, weiterverarbeiten oder kompostieren. Ein Entwurf für ein vergleichbares Gesetz in Deutschland wurde bereits von der Klimaschutz-Initiative German Zero ausgearbeitet.

In Deutschland landen rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel Jahr für Jahr im Müll. Das geht aus einer Studie des Johann Heinrich von Thünen-Institut (TI) und der Universität Stuttgart im Auftrag des Bundesernährungsministeriums von Ende 2019 hervor. Etwa die Hälfte der Abfälle entsteht demnach in privaten Haushalten, "nur" vier Prozent im Handel. Doch in vielen Supermärkten werden auch Nahrungsmittel aussortiert, die eigentlich noch gegessen werden könnten, zum Beispiel Obst mit Druckstellen, nicht mehr ganz frisches Brot oder Produkte, deren Haltbarkeitsdatum gerade erst überschritten wurde.

Laut Verbraucherzentrale werden für weggeworfene Lebensmittel knapp 30 Prozent der weltweit verfügbaren Anbaufläche unnötig genutzt, was gravierende Folgen für das Klima hat. Durch Ressourcenverbrauch, Verarbeitung, Transport und Entsorgung verursache der Lebensmittelmüll der EU im Jahr dieselbe Menge klimaschädlicher Gase wie die gesamte Niederlande. "Das sind die unnötigsten Emissionen, von denen niemand will, dass sie anfallen", sagt Jeschke, während er auf dem Supermarkt-Parkplatz Brötchen an Passant*innen verteilt, die sich offenbar nicht daran stören, dass diese schon mal im Müll gelegen haben. Zwei mit Obst, Gemüse, Chips, Schokolade, Brot und sogar Fleisch gefüllte Einkaufswagen konnten trotz Beobachtung durch Polizist*innen komplett verteilt werden.

Das Containern ist in Deutschland verboten, weil Müll bis zur Abholung durch die Entsorgungsunternehmen als Eigentum des entsprechenden Supermarktes gilt und sich in der Regel auf deren Privatgelände befindet. Immer wieder werden Container*innen daher wegen Diebstahls oder auch Hausfriedensbruchs bestraft. 2020 hat das Bundesverfassungsgericht die strafrechtliche Verfolgung von Lebensmittelretter*innen nach einer Klage von zwei bayerischen Studentinnen bestätigt. Im Dezember hatte sich der Jesuitenpater Jörg Alt nach einer Containeraktion in Nürnberg selbst angezeigt, um auf die Gesetzeslage aufmerksam zu machen. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen schweren Diebstahls gegen ihn.

Der neue Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) kritisiert die Strafbarkeit des Containerns und will sich auch für eine Erleichterung von Lebensmittelspenden für den Handel einsetzen. Die Aktivist*innen vom Aufstand der letzten Generation wollen, dass dabei nicht auf Freiwilligkeit gesetzt, sondern das Wegwerfen für Supermärkte genau wie in Frankreich unter Strafe gestellt wird. Dafür containern sie an diesem Samstag nicht nur in Berlin, sondern auch in sieben anderen Städten in ganz Deutschland öffentlich. Einige zeigen sich anschließend selbst an.

"Ich hoffe, dass durch diesen absurden Straftatvorwurf endlich allen klar wird, wie verantwortungslos wir mit Lebensmitteln umgehen", erklärt die Aktivistin Melanie Guttmann.

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