Seit ihrer Kindheit hat unsere Autorin panische Angst, sich zu erbrechen: beim Essen, in der S-Bahn, auf Partys. Wie die Phobie ihren Alltag bestimmt.
Ich bin fünf Jahre alt, eine Freundin ist zu Besuch. Wir malen gerade, als es passiert: Ein kleiner Stich in der Magengegend, nichts Dramatisches. Doch mir wird speiübel. Panisch rufe ich nach meiner Mutter. In den darauffolgenden Stunden liege ich regungslos in meinem abgedunkelten Zimmer, in panischer Angst, die kleinste Bewegung könnte mich zum Erbrechen bringen. Neben mir steht ein Eimer, symbolisch wartend auf das Schlimmste, das in meiner Vorstellung passieren kann.
Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen an das, was mich seit meiner Kindheit bis heute mit 21 Jahren begleitet: Ich habe panische Angst davor, mich zu übergeben. Kaum jemand empfindet Erbrechen wohl als angenehm, für mich fühlt sich aber allein die Vorstellung existenziell bedrohlich an. "Kotzphobie" habe ich das früher genannt. Der Fachbegriff lautet Emetophobie. Sie zählt zu den spezifischen . Die Dresden Mental Health Study geht davon aus, dass eine von 1.000 Personen betroffen ist. Sie haben Angst davor, sich selbst zu übergeben, vor allem in der Öffentlichkeit, und davor, dass andere Menschen vor ihnen erbrechen.
Diese Angst begleitet auch mich permanent. Fast alle meine Entscheidungen im Alltag werden von ihr mitbestimmt. Werde ich damit direkt konfrontiert, weil mir oder jemand anderem übel wird, bekomme ich starkes Herzklopfen. Alles fühlt sich surreal an, ich ziehe mich zurück und muss allein sein. Manchmal äußert sich meine Phobie auch in Panikattacken. Ich bekomme dann sehr schlecht Luft und kann kaum noch schlucken, mein Kreislauf wird schwach und mir bricht kalter Schweiß aus.
Als Kind hielt ich die Luft an, wenn ich einen Fleck auf dem Boden sah - aus Angst, er könnte von Erbrochenem stammen. Ich fürchtete mich vor Magen-Darm-Viren, die auf Türklinken lauerten, wusch oft meine Hände und trank literweise Kamillentee, sobald sich in meinem Bauch etwas regte. Wenn ich das Gefühl hatte, dass mir etwas hochkam, fing ich manchmal an zu rennen, um meinen Körper abzulenken, oder schluckte sehr viel.
Mit sechs Jahren begann ich eine Verhaltenstherapie für Kinder. Betroffenen können zum Beispiel Expositionstherapien helfen, bei denen sie mit ihrer Angst konfrontiert werden. In meiner Erinnerung habe ich die meiste Zeit mit Puppen gespielt und gemalt. Aber die Sitzungen zeigten Wirkung: Nach etwa einem halben Jahr wurden meine Angstzustände besser. Ich dachte weniger über Erbrechen nach und die reine Vorstellung löste keine Panik mehr in mir aus. Ich hatte Glück, dass meine Mutter mein Problem erkannte. Oft kommt es bei Betroffenen von Emetophobie zu Fehldiagnosen, zum Beispiel Reizdarm.
In der Pubertät wurde meine Phobie wieder schlimmer. Mit 19 Jahren wurde mir sogar ein halbes Jahr lang jeden Tag schlecht. Wirklich übergeben musste ich mich nie, doch die Übelkeit setzte jedes Mal ganz plötzlich ein. Ich besuchte verschiedenste Ärzt*innen, unterzog mich sogar einer Magenspiegelung, doch eine Erklärung fand man nicht. Die Übelkeit kam vor allem in bestimmten Situationen: wenn ich in Gruppen unterwegs war, konkrete Pläne für den Abend hatte, die ich nicht verpassen wollte, oder auch wenn ich in öffentliche Verkehrsmittel einstieg. Jede S-Bahn-Fahrt durch Berlin verbrachte ich mit einer umfassenden Analyse der nächsten Station: Wo könnte ich notfalls hinrennen und kotzen, ohne dass mich jemand sieht? Zwischen Alexanderplatz und Hauptbahnhof war es für mich am unangenehmsten. Zu viele Menschen, zu wenige Nischen.
Für andere muss es absurd sein, wie viel ich über das Kotzen nachdenke. Wann immer eine Person ihr Sprechen kurz unterbricht oder gar aufstößt, mache ich mich intuitiv bereit, wegzurennen – für den hypothetischen Fall, dass die Person gleich vor mir auf den Boden kotzt. Passiert ist das natürlich noch nie.
Für Filme habe ich ein eigenes Kotzradar entwickelt: Ich analysiere bis heute ständig, ob eine Szene darauf hinauslaufen könnte, dass sich jemand übergibt. Ich halte mir dann im Voraus Augen und Ohren zu, um nicht mit entsprechenden Geräuschen oder Bildern konfrontiert zu werden.
An Straßenständen kaufe ich mir prinzipiell kein Essen und Gemüse koche ich gründlich in Trinkwasser ab, bevor ich es anschließend noch mal brate. Ich bin fast mein ganzes Leben lang schon Vegetarierin. Nicht aus Tierschutzgründen, sondern weil das Risiko einer Lebensmittelvergiftung höher ist, wenn man Fleisch isst. Schon als Kind hatte ich Angst vor Fleisch. Wenn ich doch welches aß, achtete ich anschließend stundenlang auf meinen Bauch. Restaurants inspiziere ich sehr genau, bevor ich dort esse. Wenn ich mir unsicher bin, suche ich lieber weiter oder vermeide zumindest ungekochte Beilagen wie Salat.
Die Angst, mich zu übergeben, ist auch beim Feiern meine vertraute, ständige Begleiterin. Betrunkene Menschen sind für mich tickende Zeitbomben. Ich verwende an einem Abend sehr viel Zeit und Energie darauf, alle Beteiligten regelmäßig zu analysieren – um sicherzugehen, dass sich auch niemand überschätzt und eine für mich unangenehme Überraschung folgt. Ich selbst trinke niemals mehr, als ich vertrage. Auf jedes Glas Wein folgen zwei Gläser Wasser. Fühlt sich mein Magen nur minimal flau an, höre ich sofort auf.
Wirklich übergeben habe ich mich seit mehr als zehn Jahren nicht. Mir ist bewusst, dass das nicht unbedingt gesund ist. Erbrechen ist immerhin ein Schutzmechanismus des Körpers. Vor knapp einem Jahr wurde mir einmal so übel, dass ich tatsächlich bereit war, mich meiner Angst zu stellen und mich zu übergeben. Doch es funktionierte nicht. Ich fing automatisch an zu schlucken und kam nicht dagegen an.
Ich habe gelernt, mich mit meiner Angst zu arrangieren. Besonders befreiend war es für mich, zu realisieren, dass ich mit alldem nicht allein bin. Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, als ich mit 16 Jahren die Panikattacke einer Bekannten miterlebte, weil einem Freund von uns übel wurde. Ich habe mich selten so verstanden gefühlt. Erst viel später lernte ich, dass es einen Namen für meine Angst gibt. Zu Hause sprachen wir immer nur von "der Kotzphobie" oder allgemeiner von "meiner Angst". Zu erkennen, dass auch andere Menschen darunter leiden, hat mir geholfen, meine Zustände besser einzuordnen. Und mich weniger komisch zu fühlen.
Lange fiel es mir schwer, anderen von meiner Phobie zu erzählen. Oft löste das bloße Sprechen darüber Panik aus. Oder ich wurde nicht ernst genommen: Viele erwiderten, dass sie sich ebenfalls nicht gern übergeben würden. Mittlerweile wissen alle meine Freund*innen Bescheid. Sie haben verstanden, dass sie vor mir keine Kotzgeschichten erzählen sollten, und wissen, was los ist, wenn ich fluchtartig ein Treffen verlasse. Ein paarmal habe ich versucht, noch mal eine Therapie zu beginnen. Doch als ich über längere Zeit keinen Platz fand, gab ich es wieder auf. Mittlerweile habe ich mich fast freundschaftlich mit meiner Phobie arrangiert und kann schneller einschätzen, ob mir wirklich übel ist oder es bloß meine Angst ist.
Wenn ich heute unterwegs bin, habe ich immer ein kleines Täschchen dabei: zwei verschiedene Arten von Tabletten gegen Übelkeit und eine Packung angstlösender Benzodiazepine für den Notfall. Letztere habe ich selten benutzt. Aber zu wissen, dass sie in meiner Tasche sind und mich im Zweifel vor einer Panikattacke bewahren, hilft mir, keine zu bekommen.
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