Lissy Kaufmann

Reporterin, Tel Aviv/ Stuttgart/ Berlin

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Charedim bringen Israels Regierung ins Wanken

Die Koalition in Israel droht wegen des Streits um den Militärdienst für Ultraorthodoxe zu zerbrechen. Benjamin Netanjahu kämen Neuwahlen durchaus entgegen

Wieder einmal blockierten ultraorthodoxe Demonstranten am Donnerstagabend den Verkehr in Jerusalem. Hunderte Charedim, also Gottesfürchtige, mit langen Mänteln, Bärten und schwarzen Hüten zogen auf die Straße, legten sich mit der Polizei an. Die war mit Pferden und Wasserwerfern im Einsatz. Die Charedim demonstrierten so ihre Ablehnung gegenüber der Armee: Sie wollen unter keinen Umständen Wehrdienst leisten, was für Männer und Frauen in Israel eigentlich Pflicht ist. Sie wollen noch nicht mal im Rekrutierungsbüro erscheinen, um vom Dienst befreit zu werden, was für streng religiöse Studenten in Thoraschulen, den sogenannten Jeschiwot, derzeit möglich ist.

Der seit langem andauernde Streit um den Wehrdienst der Ultraorthodoxen hat sich derart zugespitzt, dass er derzeit sogar die Koalition zu sprengen droht. Seit Tagen wird in Israel darüber diskutiert, ob es zu Neuwahlen kommen könnte. Auslöser ist die Forderung der ultraorthodoxen Parteien, über ein neues Gesetz abzustimmen, das Jeschiwa-Studenten auch zukünftig vom Wehrdienst befreien würde. Das soll geschehen, noch bevor der Haushalt für 2019 verabschiedet wird. Bis spät in die Nacht berieten Premier Benjamin Netanjahu und Mitglieder der ultraorthodoxen Koalitionsparteien am Wochenende. Laut Plan steht die Verabschiedung des Budgets Anfang der Woche an.

Die Ultraorthodoxen, angeführt von Gesundheitsminister Jaakov Litzman, haben laut Berichten bereits zwei Gesetzentwürfe vorgelegt: eine Art Grundgesetz, welches das Thorastudium als Dienst für den Staat anerkennt - gleichwertig dem Wehrdienst. Das andere Gesetz soll Jeschiwa-Studenten vom Wehrdienst befreien.

Die säkularen Koalitionspartner wollen sich auf diese Forderung nicht einlassen. Finanzminister Moshe Kachlon von der Kulanu-Partei will den Haushalt wie geplant noch vor der Frühlingspause in der kommenden Woche verabschieden, sonst will er seinen Posten räumen. Unnachgiebig zeigt sich auch Verteidigungsminister Avigdor Lieberman von der säkularen, rechtsnationalen Partei "Unser Haus Israel". Er nannte die Forderungen eine "inakzeptable Erpressung", die ultraorthodoxen Parteien eine "Gruppe extremistischer Elemente".

Kompromiss in Kritik

Dass seit Donnerstag einige Minister versuchen, Neuwahlen zu verhindern und eine neue Version der Ausnahmeregelung auf die Beine zu stellen, befürwortet Lieberman nicht: "Der Gesetzesentwurf, der derzeit ausgearbeitet wird, ist kein Kompromiss, sondern eine Kapitulation", schrieb er am Freitagvormittag auf Twitter. Seine Partei werde nur einem Gesetz zustimmen, dass vom Verteidigungsministerium und der Armee vorgeschlagen wird. "Beim Thema Sicherheit gibt es keine Kompromisse." Der Gesetzesentwurf, den die Minister derzeit erarbeiten, sieht vor, dass jedes Jahr eine bestimmte, sich erhöhende Zahl an Charedim zur Armee gehen oder Zivildienst leisten muss. Wird die Quote nicht erfüllt, drohen den Jeschiwot finanzielle Strafen. Viele der Thoraschulen werden vom Staat mitfinanziert.

Der Streit um den Wehrdienst schwelt in Israel schon seit Jahren. Die Säkularen und weniger streng Religiösen sehen nicht ein, warum sie bis zu drei Jahre in der Armee dienen müssen, während die Ultraorthodoxen schon seit der Staatsgründung davon befreit sind. Immer wieder gab es Versuche, das zu ändern. Zuletzt im Jahr 2014, als Jair Lapid von der Partei Jesch Attid durchboxte, dass nach und nach alle Charedim eingezogen werden - bis auf eine Ausnahme von 1800 herausragenden Thorastudenten. Doch schon 2015 gab es Neuwahlen, das Gesetz wurde entschärft, es blieben lose formulierte Ziele. Allerdings entschied im vergangenen Jahr der Oberste Gerichtshof, dass diese Regelung gegen das Gleichheitsprinzip verstößt - eine neue Lösung wurde notwendig.

Beobachter vermuten, dass Premier Benjamin Netanjahu mögliche Neuwahlen gerade recht kommen könnten: Denn die Korruptionsaffäre spitzt sich weiter zu. In zwei Fällen hat die Polizei bereits eine Anklage Netanjahus empfohlen. Und in einem neuen Fall ist ein weiterer, einst enger Vertrauter Netanjahus zum Kronzeugen geworden. In diesem Fall soll der Premier dem Kommunikationsunternehmen Bezeq Vorteile für eine positive Berichterstattung verschafft haben. Bildungsminister Naftali Bennett von der nationalreligiösen Partei Jüdisches Heim warf Netanjahu am Wochenende vor, Wahlen herauszufordern.

Trotz all der Vorwürfe stehen die Umfragewerte für Netanjahu und seine Partei Likud nämlich gut - so gut, dass er bei Neuwahlen wieder Regierungschef werden könnte. Und dann, so schätzen Kommentatoren, könnte er mit diesem Vertrauensbeweis argumentieren, dass er weiterhin im Amt bleiben wird, selbst wenn es zu einer Anklage kommt. (Lissy Kaufmann aus Tel Aviv, 11.3.2018)

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