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Kolumne

Was ich höre

Vier Minuten, dreiunddreißig Sekunden ohne Töne, ohne Akkorde, ohne Noten – und doch voller Musik: Zwei ganz persönliche Eindrücke vom wohl berühmtesten Werk des Komponisten John Cage.

Von Lissi Pörnbacher

Als ich zum ersten Mal »4′33″« höre – oder besser: nicht höre – erwarte ich, dass ich an Jean-Paul Sartre denke. An seinen Koloss von Buch »Das Sein und das Nichts«. Stattdessen denke ich an Essen. Weil sich eine Leere in meinem Magen ausbreitet, die gefüllt werden will. Und mit der Zeit wird auch ein anderes Gefühl groß: Ungeduld. Wie lange dauern vier Minuten und 33 Sekunden? Mein Blick hält sich immer wieder an der Zeitleiste fest, die die verstreichenden Sekunden anzeigt. Ich denke, das hätte sogar ich spielen können, obwohl meine Zeit als Klarinettistin bei der örtlichen Musikkapelle lange vorbei ist.

Wochen, bevor ich zum ersten Mal »4′33″« hörte, fragte ich mich – ebenfalls zum ersten Mal – was ich eigentlich wahrnehme, wenn ich Nichts wahrnehme. Dass ich darüber nachdachte, hat mit eben diesem Buch zu tun, das mir 1.072 Seiten lang Schuldgefühle machte. Weil ich wusste, es hätte ein besseres Schicksal verdient, als zehn Jahre lang unangetastet in einer Reihe von unangetasteten Büchern zu stehen. Seit ein paar Monaten nun lese ich in »Das Sein und das Nichts«, weil ich ein Philosophieseminar besuche. Und eine Stelle nimmt mich mit: Sartre beschreibt, wie er in ein Café geht, er ist mit einem Freund verabredet, Pierre. Doch Pierre ist nicht da. Und hier nun kommt eine spannende Frage auf, die ich mir noch nie gestellt hatte: Wie genau erkennt man das denn, dass etwas nicht da ist? Also wie genau spielt sich das ab? Wie sieht man Nichts?

Er ist nicht da

Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf etwas richte, schreibt Sartre, verblasst alles andere zu Hintergrund. Dies ist Bedingung dafür, dass sich etwas davon abheben kann: das Erscheinen von dem, was ich suche. Aber was passiert, wenn ich Abwesenheit wahrnehme? Wenn das, was ich suche, nicht da ist? Nichts hebt sich vom Hintergrund ab, meine Aufmerksamkeit geht ins Leere, weil das, was sie sucht, nicht da ist. Das Café und alles darin bleibt Nicht-Pierre. Und Pierre, der nicht da ist, hebt sich vom Café als Nichts ab. 

Diese Erklärung fasziniert mich. Und ich denke: Was, wenn Pierre kein Mensch wäre, sondern ein Ton? Was, wenn ich Töne erwarte, und die sind nicht da? Wie hört man Nichts?

Wochen, nachdem ich »4′33″« zum ersten Mal hörte, sitze ich in meinem Garten und stecke mir Kopfhörer in die Ohren. Die Geräusche um mich dringen nun gedämpft in mein Ohr, ich erhöhe die Lautstärke und höre etwas, das sich anhört, wie wenn jemand Stühle verrückt. Ich versuche, etwas zu hören und meine Gedanken klammern sich daran: Rauschen und Knistern, Rauschen und Knistern, als könnten mir diese zufälligen Worte entschwinden, wenn ich nicht fest genug daran denke. 

Eine extreme Erwartungsverletzung

Rauschen und Knistern höre ich auch in der Leitung, als ich bei schlechtem Empfang mit Melanie Wald-Fuhrmann telefoniere. Sie ist Musikwissenschaftlerin und Direktorin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik und spricht mit mir über Erwartungen. In unserem Gespräch sagt sie etwas, das die Erfahrung von »4′33″« sehr gut in Worte kleidet – ich fasse zusammen: »Wenn ich in einem Klassikkonzert sitze, erwarte ich organisierten Klang. Wenn ich den dann höre, tritt das Erwartete ein und mein Weltbild stimmt. Was Cage aber macht, ist eine extreme Erwartungsverletzung. Mehr als vier Minuten lang gibt mir sein Stück keinen Input. Dieses Unerwartete zieht dann meine Aufmerksamkeit auf sich und zugleich fange ich an – im angestrengten Versuch, etwas zu hören – die anderen Geräusche bewusst wahrzunehmen, die ich sonst als nicht zum Konzert gehörig ausgeblendet hätte. Die Reaktionen darauf fallen sehr unterschiedlich aus: Für die einen ist es zu viel, sie steigen aus, verlassen wütend den Saal. Die anderen hingegen freuen sich darüber, finden das Neue und die Veränderung ihrer Wahrnehmung anregend.« 

Ich denke darüber nach, was ich erwarte, wenn ich Musik höre: Dass sie mich ablenkt, meine Stimmung hebt, dass ich Gefühle höre, so als hätte sie jemand in Text und Ton übertragen. Das alles liefert mir Cage nicht. Was ich suche, ist nicht da. Ich fühle mich zurückgeworfen auf mich selbst. Und ein bisschen hilflos, weil ich nicht weiß, was ich nun so ganz allein mit meinen Gedanken anfangen soll. Nach vier Minuten und 33 Sekunden hört das Rauschen auf. Ich drücke erleichtert auf das nächste Lied in meiner Playlist –  

»’Cause in my head, there’s a Greyhound station
Where I send my thoughts to far-off destinations.«


Hier kannst du den ganzen Text lesen: 

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