Es war ein Wintertag, die Inzidenzen wurden nach einer Corona-Welle wieder niedriger, als Camille Janicki zum ersten Mal seit zwei Jahren ihren Arbeitsplatz in Downtown betrat. "Ich hatte gehofft, dass alles wie früher wird", sagt die 27 Jahre alte Frau, die in einem Startup für erneuerbare Energien Software entwickelt. Wie früher heißt: freie Sitzplatz-Wahl. Spannende Menschen neben einem. Was nun aber fehlte: die Kolleginnen und Kollegen, die kamen kaum noch. Im Büro fühlte Camille sich allein.
Anders als viele ihrer Freunde und Bekannten, die in der arbeiten und ihre Wohnung seit Beginn der Pandemie kaum mehr verlassen, weil sie es genießen, von zu Hause aus zu arbeiten, fühlte Camille sich dort eingeengt. Zumindest, wenn sie dort arbeiten sollte. Was war mit den natürlichen Pausen? Einem schnellen gemeinsamen Kaffee? Den Gesprächen zwischen zwei Konferenzen? "Zu Hause machst du die Kamera an, hast dein Meeting und machst die Kamera wieder aus. Das ist so unpersönlich." Sie seufzt. "Ich wäre nicht gereist, hätten die Büros geöffnet und würden die Leute auch wieder dorthin zurückkehren."
Ein paar Wochen später buchte sie ein Flugticket nach Buenos Aires. Ihr Plan: umherzureisen - in Argentinien, aber auch nach Chile, Bolivien und Peru -, etwas zu erleben - und ihre Arbeit einfach mitzunehmen. "Die einzige Bedingung meines Chefs war, dass sich unsere Kernarbeitszeit für ein paar Stunden überschneidet", erinnert sich Camille Janicki. Der Zeitunterschied zwischen Vancouver und der argentinischen Stadt Mendoza, wohin sie schließlich weiterreist, liegt bei vier Stunden. Workation nennt sich das, was Camille macht. Also arbeiten ( work) und Urlaub machen ( vacation) miteinander zu verbinden.
Familienzeit
Dass die Pandemie die Art zu arbeiten verändert hat, zumindest in vielen Berufen, ist längst eine Binse. Nach der Heimarbeit, dem Homeoffice, müssen sich Unternehmen weltweit nun entscheiden, wie sie Arbeit in Zukunft gestalten wollen. Und sie müssen ihre Wünsche mit denen der Angestellten vereinbaren. Hybrid, remote oder doch ganz anders? Die Hans-Böckler-Stiftung, die regelmäßig zum mobilen Arbeiten forscht, kam zuletzt zu dem Ergebnis, dass fast die Hälfte der Befragten, die aufgrund der Pandemie von zu Hause aus arbeiten, dies auch in Zukunft tun möchte. Und gerade viele Jüngere können sich, wie Camille, vorstellen, ihren Arbeitsplatz für einige Zeit an einen Urlaubsort zu verlegen. Im Mai hat das Meinungsforschungsinstituts YouGov eine Studie veröffentlicht, derzufolge jeder achte Mensch in Deutschland gerne mal eine Workation machen will. Umgesetzt hat das in den vergangenen beiden Jahren jeder zehnte 25- bis 34 -Jährige.
Anders als Camille hat Maressa Brondi Ribeiro nur auf den Moment gewartet, virtuell zu arbeiten und gleichzeitig reisen zu können. "Ich wollte schon lange so leben", sagt die 29-jährige Softwareentwicklerin aus . Ihre Wohnung und damit ihr Homeoffice in São Paulo hat sie längst aufgegeben. Jetzt sitzt sie an einem Herbstabend unter einem Heizpilz auf einer Dachterrasse in der Ausgehmeile Aristides in Mendoza und nippt an einem Malbec Sour. Vor wenigen Stunden noch entspannte sie in heißen Thermalbädern, im Hintergrund die Anden. Sie muss feste Arbeitszeiten einhalten, doch wo sie arbeitet, kann sie eigenständig entscheiden - so wie all ihre Kolleginnen und Kollegen. "Wir arbeiten inzwischen zu hundert Prozent im Homeoffice", sagt Brondi. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie hat ihr brasilianischer Arbeitgeber seine Büros geschlossen. Seitdem arbeitet Brondi alle paar Wochen an einem anderen Ort, mal in Kolumbien, mal in Brasilien, oder wie jetzt, in Argentinien.
Wohnst du noch oder lebst du schon?, fragte eine schwedische Möbelhauskette, vor Jahren, als Werbeslogan. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch - das sind notwendige Dinge, die es zum Wohnen braucht. Leben hingegen, so sieht es zumindest das Unternehmen, ist mehr als das. Arbeitest du noch oder urlaubst du schon?, könnte man nun - übertragen auf die Arbeitswelt - fragen. Eine Frage, auf die viele Unternehmen bereits Antworten gefunden haben; mit wohlklingenden Namen: "Pledge to Flex" (überall und bis zu 30 Tage, SAP), "Smart Work Abroad" (überall und bis zu 54 Tage, Bosch) oder "New Normal Working Model" (deutschlandweit zwei bis drei Tage pro Woche, Siemens).
Von Mendoza aus arbeitet inzwischen auch Florian Ackermann. Der 34-jährige Deutsche ist ebenfalls Softwareentwickler und ging der Liebe wegen nach Argentinien. Er kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die es ins Ausland zieht. "Es ist schon cool, was heutzutage alles möglich ist", sagt er. "Vor Corona hieß es immer, dass mobiles Arbeiten entweder gesetzlich nicht geregelt ist oder die Firma so ein Modell nicht möchte." Die Erkenntnis, dass Angestellte auch zu Hause produktiv sein können, führe dazu, dass immer mehr Unternehmen den Wünschen ihrer Angestellten nachkommen, sagt die Arbeitsrechtlerin Kathrin Hartmann, die Firmen berät, die Arbeit ortsunabhängig anbieten wollen.
Camille Janicki, Maressa Brondi Ribeiro und Florian Ackermann - alle drei sind in der IT-Branche angestellt. Eine Branche, die digital arbeitet. Es braucht einen Rechner, einen Bildschirm, eine Tastatur. Softwareentwicklung gehört damit zu dem Drittel an Jobs, die nach Schätzungen des Center for Economic and Policy Research (CEPR) zumindest in Nordamerika und Westeuropa auch aus dem Homeoffice erledigt werden können. In Osteuropa und Lateinamerika liegt ihr Anteil zwischen 18 und 23 Prozent, in Subsahara-Afrika und Südasien bei weniger als zehn Prozent.
Entscheidend ist nicht nur die Art, wie man arbeitet, sondern auch der Typ Mensch: Camille Janicki, Maressa Brondi Ribeiro und Florian Ackermann sind jung, ledig, müssen keine Kinder versorgen. "Die meisten digitalen Nomaden haben keine durchschnittlichen Biographien", sagt der Soziologe Philipp Staab, der an der Berliner Humboldt Universität zur Zukunft der Arbeit forscht. Staab sieht die Gefahr, dass weltweit nur bestimmte Gruppen der Gesellschaft von immer flexibleren Arbeitsmodellen profitieren. Die Los Angeles Times schrieb Ende Juli bereits von einem "new-wave imperalism", weil so viele US-Amerikaner remote in angesagten Vierteln in Mexiko Stadt arbeiten. [..........]
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