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Die Studie: Viele Einzelhändler kämpfen mit hohen Fehlzeiten. Doch nicht jeder, der fehlt, ist wirklich krank. In einer deutschen Einzelhandelskette hat der Kölner Ökonom Jakob Alfitian ein Jahr lang untersucht, wie es sich auswirkt, wenn Unternehmen Prämien dafür zahlen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Arbeitsplatz erscheinen. Sie stellten Ernüchterndes fest: Die belohnten Mitarbeiter machten mehr blau als zuvor. Die These: Boni für Anwesenheit gehen nach hinten los.
Jakob Alfitian
Jeden Monat überprüfen wir die Thesen eines Wissenschaftlers. Dieses Mal sprachen Judith Henke und Lisa Oder, Studentinnen der Kölner Journalistenschule, mit Jakob Alfitian, Doktorand im Seminar für Allgemeine Betriebswirtschafts- und Personalwirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Für seine Studie hat er mit den Wirtschaftswissenschaftlern Dirk Sliwka und Timo Vogelsang von der Universität zu Köln zusammengearbeitet.
ALFITIAN: Mit unserer Feldstudie zeigen wir: Unternehmen sollten lieber von einem Anwesenheitsbonus absehen. Ein Geldanreiz erhöht die Abwesenheitsrate. Der Bonus signalisiert, dass es nicht selbstverständlich ist, immer zur Arbeit zu kommen. Das Belohnungssystem geht also nach hinten los.
Wie haben Sie das herausgefunden?ALFITIAN: Über ein Experiment bei einem großen deutschen Einzelhändler mit 232 Filialen. Das Unternehmen hatte zu dem Zeitpunkt ohnehin über einen Geldbonus für Anwesenheit nachgedacht. Es ging bei dem Experiment um 346 Auszubildende, überwiegend angehende Einzelhandelskaufleute. Wir haben drei Testgruppen per Zufallsprinzip zusammengesetzt und zwei Bonusvarianten eingeführt: Eine Gruppe hatte die Möglichkeit, für ihre regelmäßige Anwesenheit Geld zu erhalten, eine andere Urlaubstage. Eine weitere diente als Kontrollgruppe.
Wie viel war maximal drin?ALFITIAN: Für jeden Monat ohne Fehltag gab es einen Punkt. Wer im Laufe des Jahres drei Punkte gesammelt hatte, bekam 60 Euro ausgezahlt oder einen Urlaubstag mehr. Maximal waren so im Jahr 240 Euro oder vier Urlaubstage extra möglich.
Wer am Monatsanfang fehlte, hatte in dem Monat keine Chance mehr auf einen Punktgewinn. Hat dieser Versuchsaufbau nicht demotiviert?ALFITIAN: Wir wollten genau diesem Problem entgegenwirken. Wir haben den Bonus nach Monaten aufgeteilt, damit einmaliges Fehlen sich nicht zu stark auf den Bonus auswirkt. Jeden Monat hatte der Mitarbeiter aufs Neue eine Chance auf einen Punkt.
Wussten die Auszubildenden, dass sie Versuchskaninchen waren?ALFITIAN: Nein, sie wussten nicht, dass sie an einer Studie einer Universität teilnehmen. Wir haben sie im Namen des Unternehmens über die Boni informiert. Die Kontrollgruppe wusste nichts über die konkrete Ausgestaltung des Bonus. Ihre Mitglieder wurden aber informiert, dass sie später eine gleichwertige Prämie erhalten würden. Damit wollten wir vermeiden, dass sich die Azubis in der Kontrollgruppe benachteiligt fühlen und daraufhin ihr Verhalten ändern. Außerdem waren pro Markt alle Azubis in derselben Gruppe.
Wie lange lief das Experiment?ALFITIAN: Das Experiment begann im Januar 2018 und dauerte ein Jahr. Wir haben die Fehlzeiten der drei Gruppen vor, während und nach dem Experiment beobachtet. Schließlich haben wir betrachtet, wie sich die Veränderung der Fehlzeiten vor und nach der Einführung des Bonus zwischen den Gruppen unterschied. In einem Jahr kann viel anderes passieren, was die Anwesenheit von Mitarbeitern beeinflusst - vielleicht fehlen ja mehr Azubis, wenn besonders oft die Sonne scheint. Ein reiner Vorher-nachher-Vergleich ist daher nicht aussagekräftig und die Kontrollgruppe von entscheidender Bedeutung.
Geld oder Freizeit - wie haben sich die Köder ausgewirkt?ALFITIAN: Der Geldbonus führte dazu, dass die Azubis im Schnitt alle zwei Monate an einem zusätzlichen Tag abwesend waren. Der Zeitbonus scheint hingegen weder Nutzen noch Schaden angerichtet zu haben.
Sie haben nach dem Experiment die Azubis befragt. Was kam dabei raus?Alfitian: Der Bonus signalisiert: Es ist nicht selbstverständlich, immer zur Arbeit zu kommen. Viele Azubis, die die Anwesenheitsprämie erhielten, stimmten in der Umfrage zu, dass sie dachten: Ich muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich fehle. Ohne einen Bonus kommen viele zur Arbeit, um der Firma zu demonstrieren: Ich bin verlässlich. Mit dem Geldanreiz ist das nicht mehr möglich. Die Firma kann nicht mehr unterscheiden, ob die Person motiviert ist oder nur des Geldes wegen kommt.
Wie schädlich ist es für das Unternehmen und die Kultur, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter krankfeiern?ALFITIAN: Dem Unternehmen entsteht direkter wirtschaftlicher Schaden, denn es gilt ja der sechswöchige Anspruch auf Lohnfortzahlung. Blaumachen schädigt außerdem den Teamzusammenhalt. Es ist unsolidarisch - und jeder weiß das: In unserer Umfrage hielten es die Auszubildenden aus allen drei Testgruppen für wahrscheinlich, dass sie sich durch Blaumachen bei den Kollegen unbeliebt machen. Wenn im Einzelhandel jemand fehlt, müssen andere seine Arbeit übernehmen, der Stresspegel steigt.
Gibt es branchenspezifische Faktoren, die zu hohen Fehlzeiten führen?ALFITIAN: In Sektoren wie dem Einzelhandel lässt sich schlecht auf Sparflamme arbeiten. Wenn ich an meinen Job denke, ist das anders. Ich könnte zur Arbeit kommen und sagen: "Heute habe ich keine Lust, heute surfe ich im Internet." Die Auszubildenden im Einzelhandel sind sehr eingespannt, die können schlecht rumstehen. Wenn ich da keine Lust habe, bleibe ich also eher zu Hause.
Sind die Ergebnisse übertragbar auf andere Branchen?ALFITIAN: Die Arbeit von Einzelhandelskaufleuten spiegelt viele andere übliche Tätigkeiten wider. Unser Vorteil ist, dass wir ein echtes Unternehmen mit echten Menschen angeschaut haben. Das ist etwas anderes als Tests im Labor.
Das Personalwesen steht unter starker Beobachtung und muss sich etwas einfallen lassen, um vor den Augen vieler CEOs zu bestehen. Wie sich Personalmanagement verändern muss und wie die Zukunft von Human Resources aussehen kann.
ALFITIAN: Typischerweise wenden Gegner eines Geldbonus ein, die Belohnung sorge für mehr kranke Menschen auf der Arbeit. In unserer Feldstudie scheint das kein treibender Mechanismus zu sein. Das heißt aber nicht, dass keine Gefahr dafür besteht. Die Einwände von Gewerkschaftern unterstützen sogar unsere Handlungsempfehlung, ein solches Anreizsystem nicht einzuführen. Man hat einerseits das Risiko für Präsentismus und zusätzlich den Schaden durch den Bonus.
In Ihrer Studie konzentrieren Sie sich auf Auszubildende in den ersten beiden Lehrjahren. Junge Leute haben eine hohe Freizeitpräferenz ...ALFITIAN: Die Auszubildenden waren mit durchschnittlich 19 Jahren jung und im Beruf unerfahren. Tatsächlich wurde der negative Effekt des Bonus insbesondere durch die Auszubildenden im ersten Lehrjahr getrieben. Denen fehlte es an Erfahrung und damit an Gespür dafür, wie normal oder schlimm es ist, oft zu fehlen. Berufsanfänger verleitet ein Bonus also schneller dazu zu denken, regelmäßiges Kommen sei nicht die Norm.
Vielleicht funktioniert der Bonus dann ja bei älteren Mitarbeitern!ALFITIAN: Wie sich mit mehr Berufserfahrung das Verhältnis zur Anwesenheit ändert, wäre eine Frage für eine neue Studie. Nehmen wir beispielsweise einmal an, ältere und erfahrenere Mitarbeiter machen weniger blau. Dann gibt es ohnehin weniger Raum für die eigentlich erwünschte Wirkung des Bonus.
Wie lange hält der negative Effekt des Bonus an?ALFITIAN: Junge Arbeitnehmer können wegen eines Anwesenheitsbonus potenziell langfristig demotiviert werden. Wir sehen in unserer Studie, dass der Effekt auf die Abwesenheit auch im Jahr 2019 - ein Jahr später - noch nachhallt. Selbst die Effektstärke fällt nicht sehr stark ab.
Amazon hat Mitarbeitern für die vollständige Anwesenheit in der Weihnachtszeit 400 Euro gezahlt, Daimler lockte mit 200 Euro fürs Kommen. Könnte es sein, dass es schlicht zu wenig Geld war?ALFITIAN: Wenn man beispielsweise eine Prämie in Höhe von einer Million Euro für Anwesenheit auszahlen würde, würde der von uns festgestellte Effekt sicher verschwinden. Aber natürlich könnte ein Anreiz in dieser Höhe für eine Firma nie profitabel sein. Unser Ziel war es, einen Bonus nach Industriestandards zu untersuchen. Und der scheint falsche Anreize zu setzen.
Wie kann ein Unternehmen auf anderen Wegen dafür sorgen, dass weniger blaugemacht wird?ALFITIAN: Der Anreiz signalisiert möglicherweise ein gewisses Misstrauen des Vorgesetzten. Eine Alternative wäre , Vertrauen auszustrahlen, gemeinsam über die Gründe für das Blaumachen zu sprechen - und dann die Ursachen aus dem Weg zu räumen.
Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal blaugemacht?ALFITIAN: Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Aber ich will mich jetzt nicht selbst beweihräuchern. Motivationstiefs sind bei jedem Menschen unvermeidbar. Aber der Arbeitgeber kann dafür sorgen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gern zur Arbeit gehen. An solchen Stellschrauben sollten Unternehmen drehen. © HBM 2020