Hartmud Lamprecht zieht den Theatervorhang zur Seite. Die Bühne ist sein Wohnzimmer, der Vorhang nur eingebildet, aber das ist jetzt egal. Barfuß und in einem grauen Jerseyanzug tritt er auf seinem Teppich zwei Schritte nach vorn. Ein Hosenbein hängt ihm im Knie, aber Brust und Bauch hat er stolz hervorgestreckt. Den Text, den Lamprecht vor etlichen Jahren auswendig gelernt hat, kann er noch. Die Rolle, die er spielte, war er selbst.
"Hab 'nen Hauptschulabschluss, keine Berufsausbildung, das hat sich dann so fortgezogen. War Hausmeistergehilfe, hab Fenster geputzt, als Kurierfahrer gearbeitet, dann musste ich das aus schweren gesundheitlichen Gründen aufgeben." Eine Minute lang rattert er sein Leben herunter, bis er sagt: "Meine Frau sagt mir jeden Tag, was für ein Loser ich bin."
Dann bricht er ab und lässt die Schultern sinken.
"Ende."
2008 stand er mit diesem Monolog auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses. Er und weitere Hartz-IV-Empfängerinnen spielten für Marat, was ist aus unserer Revolution geworden sich selbst. Das Stück sollte dem kulturaffinen Publikum die Welt der Armen zeigen. Für das Publikum war es ein unterhaltsamer Abend. Für Hartmud Lamprecht war es die Zeit seines Lebens.
"Damals war ich ein Star", sagt er und lässt sich auf sein katzenzerkratztes Sofa fallen. "Jetzt bin ich wieder ein Nichts."
Hartmud Lamprecht, 50 Jahre alt, kinderlos und mittlerweile geschieden, ist einer von 30.000 Personen, die sich bei ZEIT ONLINE gemeldet haben, um Teil von Die 49 zu werden, einer Gruppe von Menschen, die ein Abbild der deutschen Gesellschaft sind. Der Algorithmus wählte ihn aus, seit einigen Tagen ist er Mitglied der Gruppe.
Lamprecht ist Taxifahrer, am liebsten fährt er nachts. Aber nach einer Gelenk-OP und einem Jahr in Kurzarbeit hat er Geldprobleme. Er droht unter die Räder zu geraten. Sogar um seine Wohnung muss er fürchten. Aber das, sagt er, sei nicht mal das Schlimmste. Schlimmer sei die "Finsterkeit", die sich mit der Pandemie in sein Leben schlich.
Gelegenheitsjobs, kaum Sicherheit. Eine Wohnung, die man kaum bezahlen kann. Ein Leben fast allein. Reicht das, um zufrieden zu sein? Was sind Hartmud Lamprechts Wünsche für ein besseres Leben - und ein besseres Deutschland?
In den Urlaub fährt er nieLamprecht wohnt in Hamburg-Bergedorf, einem Außenbezirk im Hamburger Osten hinter dem Autobahnkreuz. Die Mieten sind hier noch bezahlbar, der Lebensstandard eher Labskaus als Elphi. Er bewohnt das Dachgeschoss eines Rotklinkers, an dem vorn die B 5 vorbeirauscht und hinten die Vögel in den Bäumen zwitschern.
Seit 17 Jahren lebt er hier, und nachdem seine Frau auszogen ist, ist die Wohnung wieder das, was sie früher war: eine Junggesellenbude. Im Schlafzimmer hängen Jogginganzüge auf einem Wäscheständer, in der Küche stapeln sich neben dem benutzten Geschirr Linseneintöpfe in Dosen, Jodsalzpakete, Nutella-Gläser. Im Wohnzimmer schnurrt Borsti, eine grau melierte Perserkatzendame, um einen massiven Billardtisch.
"'Schuldigung, ich bekomme nicht so oft Besuch", murmelt er, wischt mit dem Ärmel über den Esstisch und rückt einen Stuhl zurecht. "Wollen Sie 'nen Apfel? Oder 'ne Möhre?", fragt er. "Was anderes hab ich gerade nicht."
Als Taxifahrer verdient Hartmud Lamprecht 12,50 Euro die Stunde. Seine Wohnung nennt er "seinen Lebensluxus", sie kostet 650 Euro warm. Nach allen Abzügen, sagt er, blieben ihm rund 380 Euro zum Leben. 200 Euro brauche er für Lebensmittel, der Rest sei "zum Verjubeln". Lamprecht spart nichts. Er fährt auch nie in den Urlaub. Er raucht nicht, er trinkt nicht, und das Einzige, was er sich leistet, ist ab und zu ein Abendessen beim Griechen und die Gebühr für den Billardverein. Die Scheidung zahlte seine Frau. Lamprechts letzte große Anschaffung war die Katze. Die hat er über eBay-Kleinanzeigen gekauft.
Aber Lamprechts Miete wird jedes Jahr erhöht - als Anpassung an den Mietenspiegel. Früher seien es zehn Euro im Jahr gewesen, jetzt seien es rund 25. Er habe bei der Wohnungsbaugesellschaft bereits angerufen, sagt er, aber die interessiere seine Lage nicht. Nach zwei Mieten im Rückstand, sagt Lamprecht, schmissen sie ihn wohl raus, so will es der Mietvertrag. Im Moment kann er die Miete noch bezahlen. "Aber lange geht das nicht mehr gut."
Lamprecht schlägt sich eine braune Wolldecke um die nackten Füße und hebt Borsti auf seinen Schoß. Er greift sich eine Bürste, die neben einer Lesebrille und einer zerknitterten ZEIT auf dem Sofa liegt, und fährt der Katze in langen Strichen über ihr zerzaustes Fell.
"Heute frage ich mich manchmal: Wo bin ich falsch abgebogen?"
Das ist ein Text aus unserer Serie Die 49. Im Jahr der Bundestagswahl haben wir 49 Menschen gefunden, die möglichst genau die Vielfalt in Deutschland abbilden. Hier können Sie nachlesen, wer die 49 sind und was sie über Deutschland denken.