Überleben in der Wildnis Norwegens, mehrtägige Radtouren, Arbeiten auf dem Bauernhof - das gibt es seit einigen Jahren als Schulfach. „Herausforderung" nennt es sich, und im Fokus steht dabei nicht, den Jugendlichen einen Abenteuerurlaub zu bieten, sondern ihnen Aufgaben zu stellen, an denen sie wachsen können. „Vor meiner ersten Herausforderung war ich ziemlich aufgeregt", sagt der 14 Jahre alte David Hamm. Er ist im vergangenen Jahr mit einer Gruppe nach Norwegen gefahren und hat dort gezeltet. Er besucht die Winterhuder Reformschule in Hamburg, und die stellt ihre Schüler der Klassenstufen 8 bis 10 seit 2006 regelmäßig vor solche Herausforderungen. Sie hat das als erste Schule in Deutschland als regelmäßige Veranstaltung eingeführt. Inzwischen gibt es 34 Schulen, die diese Herausforderungen in verschiedenen Formen an ihre Schüler stellen. In einer Zeit, in der Kinder so behütet aufwachsen wie nie zuvor, soll das Selbständigkeit fördern.
„Jugendlichen in diesem Alter ist Schule egal", sagt die Schulleiterin der Winterhuder Reformschule, Birgit Xylander. „Freunde, Liebschaften und persönliche Katastrophen sind - vielleicht auch objektiv - wichtiger. Man muss Heranwachsenden echte Aufgaben geben, keine künstlichen." Ziel der Aktionen ist es, Schüler aus dem Schulkontext zu nehmen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, prägende Lebenserfahrung zu machen. „In den Herausforderungen geht es darum, dass sich die Schüler einen kleinen Schritt vom Elternhaus ablösen und emanzipieren. Sie fragen sich: Wo sind meine Grenzen und Stärken?", sagt André Sorgenfrei. Er ist Lehrer für Mathematik, Physik und Sport und verantwortlich für die Koordination der Herausforderungen an der Reformschule.
Für die dreiwöchigen Projekte stehen den Schülern 150 Euro zur Verfügung. Einige der Aktionen, zum Beispiel die Herausforderungen in Norwegen, sind teurer, 300 Euro sollten sie aber nicht überschreiten. Die Differenz zwischen 150 und 300 Euro müssen die Schüler selbst auftreiben: durch Sparen oder Arbeiten, Kuchenverkauf etwa. Die meisten der Aktionen werden von Lehrern begleitet. Möglichst alle Schüler sollen teilnehmen und suchen sich deshalb ein gutes halbes Jahr im Voraus Projekte aus, die sie interessieren. Dafür müssen sie Bewerbungen schreiben, in denen sie erklären, warum das ausgewählte Projekt für sie eine Herausforderung darstellt. Nicht nur einmal, sondern dreimal in aufeinanderfolgenden Jahren haben Schüler die Möglichkeit, etwas ganz Neues zu probieren.
Die 13 Jahre alte Joana Boettcher da Silva war in diesem Jahr zum ersten Mal mit dabei. „Wasserwandern" hieß ihre Herausforderung, auf dem Programm standen Windsurfen und Kajakfahren auf der Ostsee. „Besonders das Kajakfahren fand ich schwierig, weil das sehr anstrengend war und viele in der Gruppe das vorher noch nicht kannten", erzählt sie. David Hamm fand das Überleben in der Wildnis ganz ohne Toilette, Handy oder fließend Wasser besonders schwierig.
Die 15-jährige Mila Meinhof hat schon dreimal mitgemacht. Einfacher ist es über die Jahre nicht unbedingt geworden. In diesem Jahr war sie mit der Herausforderung „Heraus aus dem Nest" ohne Begleitung eines Erwachsenen in Schottland und hat bei einer Tagesmutter gelebt und gearbeitet „Es war eine Herausforderung für mich, drei Wochen so viel mit einer Person zu tun zu haben, mit der ich sonst nicht so intensiv zu tun habe", sagt sie.
Zwischen Disziplin und FreiheitDer pädagogische Ansatz hinter den Herausforderungen kommt aus der Reformpädagogik. Anne Sliwka, Professorin für Bildungswissenschaft an der Uni Heidelberg, forscht zu dem Thema. Für sie schwankt Lernen im Jugendalter zwischen Interesse und Langeweile, Freude und Qual. Da sei es wichtig, Schülern Selbstreflexion zu vermitteln - was sich immer im Spannungsfeld zwischen Disziplin und Freiheit bewege. Um intrinsische Motivation zu entwickeln, müssten Jugendliche drei Dinge erleben: Kompetenz, Autonomie, soziale Einbindung.