Frau Grillmeier, Sie sind 2017 zum ersten Mal auf der griechischen Insel Lesbos gewesen, die in der sogenannten Flüchtlingskrise jedem ein Begriff wurde. 2018 kamen Sie für eine Reportage zurück und entschieden sich, dort hinzuziehen. Wie kam das?
Franziska Grillmeier: Anfangs konnte ich mir gar nicht vorstellen, länger zu bleiben. Eine Freundin aus der humanitären Hilfe hatte mich in 2017 auf dem Laufenden gehalten, was in den Lagern passiert, und mir erzählt, wie schwer es ist, auf der Insel zu leben, weil sie sich in einem dauerhaften Ausnahmezustand befindet. Auf Lesbos ist alles wie unter einem Brennglas sichtbar - gleichzeitig kann man innerhalb weniger Meter im Paradies, in einer ganz anderen Realität, stehen. Das ist ein ziemlich gutes Abbild unserer europäischen Wirklichkeit. Ich bin dann fünf Winter auf Lesbos geblieben, um das, was dort passiert zu dokumentieren, Menschen und ihre Schicksale zu begleiten - auch jenseits der medialen Höhepunkte.
Der Titel steht sinnbildlich für die vielen Inseln und Orte entlang der europäischen Außengrenzen, an denen es zu einer immer größeren Isolation von Geflüchteten, Schutzsuchenden und Migrantinnen kommt. An denen es zum Abbau der Pressefreiheit kommt oder zur Kriminalisierung humanitärer Hilfe. Das geschieht aktuell zum Beispiel an der Militär-Sperrzone zwischen Polen und Belarus oder in einem Waldabschnitt an der kroatischen Grenze. Diese Orte ähneln sich auf erschreckende Weise, auch wenn sie in ihrer Natur sehr unterschiedlich sind.
Im Buch beschreiben Sie, dass die Situation in Moria kalkuliert war. Gab es einen Moment, in dem Ihnen das bewusst wurde?
Ich habe mich irgendwann gefragt, wie wir handeln, wenn zum Beispiel eine Flutkatastrophe geschieht. Innerhalb weniger Tage stehen zumindest menschenwürdige Zelte, Turnhallen werden zur Verfügung gestellt und das Technische Hilfswerk ist vor Ort. Das war hier nie der Fall. Man hat Situationen geschaffen, in denen - überspitzt gesagt - fünf Polizisten für 20.000 Menschen zuständig waren. Und das lag nicht am Geld, denn es ist viel Geld nach Griechenland geflossen. Die Botschaft sollte sein: Komm hier nicht her.
Die große Solidaritätsbewegung von 2015 und 2016, in der man gesagt hat, wir zeigen jetzt, was Europa auch kann, nämlich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft zu fungieren, sondern humanitäre Werte hochzuhalten, hat sich abgenutzt. Das Gefühl entstand, dass da niemand nachkommt. Das EU-Türkei-Abkommen war ein historischer Moment, denn die eigens auferlegte Schutzverantwortung wurde ausgehebelt und die Verantwortung auf die Pufferzonen-Inseln ausgelagert, was die Bevölkerung natürlich gefühlt hat: Die Wahnsinns-Proteste im Jahr 2020, diese Kraft in der Wut und Frustration gegenüber der Regierung in Athen werde ich nie vergessen.
Die systematische Verwahrlosung der Menschen hat dazu geführt, dass es zum Beispiel keinen ordentlichen rechtlichen Beistand oder medizinische Versorgung gab - wir sprechen ja oftmals über Menschen mit schweren Behinderungen, Überlebende von Folter oder an Tuberkulose erkrankte Menschen. Das wurde zu einem riesigen Pulverfass, das irgendwann explodieren musste. Vor dem großen Brand hatte es bereits über 240 Feuer in Moria gegeben. Mich hat es eigentlich gewundert, dass das nicht schon viel früher passiert ist, dass sich diese Eskalation so lange hingezogen hat.
Auf vielen Ebenen. Denken wir an den Schiffbruch vor Pylos im Juni und die verwackelten Bilder von dem verrosteten Kutter aus der Vogelperspektive. Oder die Bilder von Interviews mit den Überlebenden, die versuchen durch Gitter eines abgeriegelten Camps mit den Medien zu sprechen. Es macht etwas mit den Betrachtern, Menschen hinter Gittern zu sehen. Auch die Architektur der neu gebauten Lager ist ein Beispiel. Teil dieser Politik ist eine 24/7-Überwachung, Drohnen und Nato-Stacheldraht werden eingesetzt. Jede Person, die ankommt, wird als potenziell kriminell gesehen, weil sie irregulär eingereist ist.
Moria war furchtbar - es war ein Ort, den es niemals hätte geben dürfen. Jeder war ständig unterwegs, es wurde einfach nur versucht, zu überleben. Allein der Gang zur Dusche, zur Toilette, zur Essensausgabe war eine riesige Aufgabe. Essen wurde als Form der Kontrolle genutzt: "Man wartet die ganze Zeit wie ein Fisch im Aquarium, bis man irgendwie gefüttert wird", hat ein Mann aus Afghanistan mir mal gesagt. Gleichzeitig gab es Momente der Solidarität; Menschen konnten ihr eigenes Brot backen, ein paar Tomatenpflanzen vor dem Zelt anbauen. Ich konnte den Menschen außerhalb des Lagers begegnen, sodass sie frei erzählen konnten. In den Closed Controlled Access Center ist es jetzt so, dass es einen kontrollierten Vorderteil und einen geschlossenen Hinterteil gibt.
Alles ist restriktiver geworden. Es ist schwer, begreifbar zu machen, was dort passiert. Diese Strategie, in der Migration als Sicherheitspolitik verstanden wird, führt dazu, dass die Menschen nun einen Container und WiFi haben, aber in haftähnlichen Bedingungen leben. Das ist schwerer zu beschreiben als Zelte, die den Abhang runterrutschen. Und die Räume der Verborgenheit sind weiter ausgeweitet worden. Die Presse darf zum Beispiel nur unter Aufsicht rein, die Menschen im Lager dürfen keine Fotos machen und nach draußen schicken.
Ja, es wurden immer mehr Helfende verhaftet und Anklage gegen sie erhoben. Journalisten wurden der Spionage bezeichnet. Seit März 2020 haben die Pushbacks in einer Systematik zugenommen, die es so vorher nicht gab. All das ist ausreichend dokumentiert. Die einzige Antwort, die man derzeit zu kennen scheint, ist Brutalität. Und das reflektiert natürlich auch auf die Bevölkerung in Europa zurück.
Ich hatte schon immer ein eher realistisches Bild, nämlich das einer interessensgesteuerten Gemeinschaft, in der Menschenrechte als Konzept eingesetzt werden, wenn es von Nutzen ist. Was sich verändert hat, ist mein Glaube an die Rechtsstaatlichkeit. Vor allem: Wie schnell diese abgebaut werden kann. Wie schnell eine Gewaltspirale entsteht, die zur gefährlichen Normalität wird. Das ging so rasant, dass ich bis heute nicht richtig hinterherkomme.
Das Interview führte Lisa Brüßler.