Lisa Brüßler

Journalistin. Print, Online & Social, Berlin

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Digital Streetwork: Die neue Straße ist das Netz

Die digitale Lebenswelt gewinnt immer mehr an Bedeutung, doch die Jugendarbeit entwickelt sich nicht im gleichen Tempo mit.

Wenn Sozialarbeiterin Maria Richter im Dresdener Süden mit dem Bus der Mobilen Jugendarbeit Prohlis unterwegs ist, ist eins immer im Gepäck: ihr Dienst-Smartphone. "Digital und analog läuft bei uns parallel - während einer den Bus fährt, postet ein anderer auf unseren Social Media-Accounts, wo wir unterwegs und ansprechbar sind", erzählt Richter. Die Streetworkerin und ihre beiden Kollegen (Foto) sind im Rahmen des Projekts der Mobilen Jugendarbeit Dresden-Süd unterwegs, um in den Stadtteilen Gesprächs- und Beratungsangebote zu machen. Gleichzeitig möchten sie auch da Präsenz zeigen, wo Jugendliche einen Großteil ihres Alltags verbringen: online. "Wir haben unsere Profile in sozialen Netzwerken wie Instagram in den letzten Jahren stark ausgebaut, weil wir an dieser Lebenswelt nah dran sein wollen und darin viel Potenzial liegt, junge Menschen zu erreichen", erklärt Richter.


Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren sind durchschnittlich 67,8 Stunden pro Woche online, also knapp zehn Stunden am Tag - das hat die letzte Postbank Jugend-Digitalstudie ergeben. 2019, vor Ausbruch der Pandemie, lag der Wert noch bei 58 Stunden. Weitet man den Blick, kommen laut der ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2022 auch die 14- bis 29-Jährigen auf fast sieben Stunden (413 Minuten) tägliche Nutzungsdauer. In der Altersgruppe liegt bei den Social Media Apps Instagram mit 74 Prozent weit vor Snapchat (47 Prozent), TikTok (44 Prozent) und Facebook (42 Prozent).


Verzahnung nötig

"Wenn wir unterwegs sind, weisen wir oft auf unsere Profile hin und geben mit, dass man uns kontaktieren kann, wenn ein Thema aufkommt", sagt Richter. Häufig gehe es im Netz um einen Erstkontakt, dem die drei Streetworker relativ bald ein persönliches Gespräch als Angebot folgen lassen. Ausführliche Beratung finde über soziale Medien und Messenger nicht statt - auch aus Datenschutzgründen. Bei den Anfragen gebe es eine große Bandbreite, erzählt Richter: von Fragen zur Jobsuche, Beantragung von Leistungen wie Bürgergeld über Ideen für die Veränderung des Stadtteils bis hin zu aufenthaltsrechtlichen Fragen, Suchtthematiken oder persönlichen Belastungen.


"Digital Streetwork würde ich es in unserem Fall nicht nennen - es ist mehr ein Kanal, über den man uns kontaktieren kann und Informationen bekommt oder sich beteiligen kann, zum Beispiel über Umfragen", sagt Richter. Als die Energiekrise ein großes Thema war, habe das Team darüber Hinweise bekommen, was junge Menschen umtreibt und worauf in Beratungen verstärkt hingewiesen werden könne - ob Tipps für den Alltag oder konkrete Angebote von Beratungsstellen.


Gerne wären die Dresdener Streetworker noch mehr in sozialen Netzwerken unterwegs, zum Beispiel auf TikTok - nur ist das eine Frage der Ressourcen. Zu dritt teilen sie sich zwei Vollzeitstellen: "Das Digitale ist noch zusätzlich dazu gekommen, wir haben aber nicht mehr Stellen oder Mittel bekommen", erklärt Richter die Gründe. Auch beim Erstellen von Content wären sie gern aktiver. Die Stadtteile seien durch Segregation geprägt und es gebe viele zugezogene oder eingewanderte Menschen. "Da ist in jedem Fall ein größerer Bedarf da, als wir abdecken können", sagt sie.


Modellprojekt Digital Streetwork in Bayern

Das stellt auch das Modellprojekt "Digital Streetwork" des Bayerischen Jugendrings fest: Für die sieben bayerischen Regierungsbezirke wurden 2021 - anfänglich als Unterstützung in der Corona-Pandemie gedacht - 14 Digital Streetworker angestellt, die das Internet als die "neue Straße" verstehen: Sie versuchen analoge Streetwork-Formate dorthin zu übersetzen, beraten junge Menschen aus Bayern direkt in den sozialen Netzwerken oder Messenger-Diensten und testen immer wieder neue Plattformen aus. "Viele Jugendliche haben keinen Anschluss mehr an die etablierten Hilfesysteme. Das hat sich durch die Pandemie noch verstärkt, geht aber natürlich auch mit der zunehmenden Digitalisierung und der Verdrängung junger Menschen aus öffentlichen Orten einher", erklärt Projektleiter Jonas Lutz. Sein Ziel ist, dass das Modellprojekt auch im Jahr 2024 fortgesetzt wird: "Wir könnten doppelt so viele Streetworker beschäftigen und es hätten immer noch alle genug zu tun", betont er.


Die Idee der Jugendsozialarbeit, die im Internet aufsucht, kommt aus Skandinavien und wurde in Deutschland zum Beispiel in der digitalen Extremismusprävention aufgegriffen. In Bayern arbeiten die digitalen Streetworker jedoch komplett themenoffen: "Die Themen reichen von einfach nur mit jemanden reden wollen über familiäre Probleme, Einsamkeit bis hin zu häuslicher Gewalt oder der Suche nach einem Therapieplatz", erzählt Streetworker Eike Müller, der für den Raum Unterfranken zuständig ist.


Häufig habe er mit Anfragen rund um das Thema psychische Gesundheit zu tun. Sein Arbeitsalltag ist davon geprägt, zu schauen, wo genau er unterstützen kann oder welche Stellen es vor Ort gibt, an die sich jemand wenden kann. Mit seinen Profilen ist er momentan vor allem auf Jodel, Discord und TikTok aktiv, sein Kollege deckt andere Plattformen ab. Überall gleichzeitig ansprechbar zu sein, geht nicht, denn auf jeder Plattform wird anders kommuniziert.


"Es soll so einfach wie möglich sein, Hilfe in Anspruch zu nehmen", erklärt Müller die Grundidee. Dabei mache er immer nur Angebote und schreibe Leute nicht direkt an. Über die Homepage des Projekts können die Jugendlichen die Streetworker verifizieren. Nach persönlichen Daten werde nur gefragt, wenn es für die Beratung nötig sei - jeder kann anonym bleiben. Praktisch sieht das oft so aus, dass Müller Kommentare unter Beiträgen hinterlässt die ungefähr so lauten: "Wenn du darüber reden willst, kannst du mich gern anschreiben". Das werde rege in Anspruch genommen: "Bis April haben unsere Streetworker über 6.000 Kontakte mit jungen Menschen gehabt, über 2.500 Beratungsgespräche geführt und in 300 Fällen ist es gelungen, junge Menschen an das Hilfesystem zu vermitteln", erzählt Projektleiter Lutz. Dass digital Streetwork als Ergänzung verstanden wird, ist beiden wichtig: Es brauche immer Unterstützungsmöglichkeiten vor Ort.


Eike Müller geht davon aus, dass sich sein Arbeitsfeld weiter etablieren wird. Immer wieder bekomme er das Feedback, dass es solch ein Angebot auch in anderen Bundesländern brauche. "Digital Streetwork ist etwas, das eine gewisse Überregionalität braucht - anders als die Jugendhilfe, die sehr lokal geregelt ist", erläutert Lutz. Egal wo: Was überall nötig ist, ist eine Jugendarbeit, die - on- und offline - Hand in Hand arbeitet.

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