Juni 2016. E1, Piräus. Das ist das letzte Terminal des Hafens, in dem eine bunte Zeltstadt steht – das erste, was man sieht, wenn man mit dem Schiff in den Hafen einfährt. Überall liegt Müll herum, in dem Kinder spielen. Immer dann, wenn mal wieder ein Terminal geräumt werden soll, halten die Medien stundenlang ihre Kameras auf das Geschehen. Gleichzeitig gibt es immer weniger Freiwillige. Ich verteile in der Mittagssonne bei 30 Grad das Essen, das die Armee gebracht hat, an die verbleibenden Flüchtlinge, die seit Monaten in notdürftigen Zelten im Hafen leben. Meistens gibt es Nudeln mit Soße. Meistens heißt vier bis fünf Mal die Woche. Manchmal gibt es Feta dazu, Orangen als Nachtisch. „Portokalia“ heißen die Früchte auf Griechisch, das haben viele der Geflüchteten schnell gelernt.
Im E1 arbeiten hauptsächlich Rentner, Studenten und andere Freiwillige, die immer wieder vor und nach der Arbeit kommen. Tag für Tag. Kommunizieren ist nicht einfach, Englisch sprechen nur die wenigsten derjenigen, die jetzt noch im Hafen von Piräus leben. Fünfzig Meter daneben, um 17.30 Uhr, legt die große Fähre nach Santorin ab. Blue Star heißt die Reederei – blauer Stern. Mit einer dieser Fähren sind auch viele der Geflüchteten hier angekommen. Jetzt sind es Autos, LKWs und Touristen, die an Bord gehen. So nah neben denen, die nicht einfach so reisen können. Die festsitzen, seit Monaten im selben Zelt, am selben Ort, weit weg von Zuhause, in einem Land, in dem sie eigentlich keinen Asylantrag stellen möchten. „Almania“, Deutschland, heißt das Ziel der meisten Geflüchteten, mit denen ich spreche.
An der Belastungsgrenze
Athen ist in der Zeit, in der ich dort bin, an den Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit. Alle Einrichtungen sind voll, immer wieder sieht man Kinder in Hauseingängen schlafen, die Verzweiflung ist spürbar. Ich gehe mit dem Guide Gianni durch Metaxourgheio, das Viertel, in dem er früher immer Drogen genommen hat. Jetzt arbeitet er für Sxedia, das griechische Obdachlosenmagazin, das einen traurigen Rekord hält: Es ist wohl das einzige mit einer 200 Personen langen Warteliste, an Menschen, die nur diese Zeitung verkaufen wollen, von der Straße runter, wieder ein Dach über dem Kopf haben wollen. Es sind vor allem Leute zwischen 25 und 80, die vorher einen Job hatten und dann arbeitslos wurden, erzählt mir der Chef des Magazins Chris Alefantis. Jeden Tag sehe ich ältere Leute, die in Resten des Obst- und Gemüsemarktes nach Essbarem suchen. Leute, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Ich helfe in einer der vielen hundert Suppenküchen Athens mit, sehe viele Leute mittleren Alters, die schnell, mit gesenktem Kopf essen und wieder verschwinden. Sie schämen sich.
In Metaxourgeio besuche ich auch Natassa und Jenny in ihrem neoklassizistischen Haus, das ein cross-cultural center beherbergt. „Communitism“ heißt das Projekt, das das etwas zerfallene Haus nutzen will für die Nachbarschaft und Künstlerszene, da der Eigentümer es nicht mehr in Stand halten kann. Das kleine Team von Studenten, Arbeitslosen und Künstlern, das aus der Krise heraus entstanden ist, organisiert Workshops, Ausstellungen, Konzerte und Lesungen. Heute ist Alexandra vom Caravan-Projekt da, die das Social Conservatory Notes in Athen mit der Kamera begleitet hat. In dem Konservatorium erteilen seit Krisenbeginn vierzig Lehrer ohne Bezahlung Musikunterricht an Kinder und Jugendliche, die nicht die finanziellen Mittel haben. Fast immer sind die Musiklehrer selbst krisenbedingt arbeitslos geworden, aber sie haben Spaß hier, eine Aufgabe. Das Caravan-Storytelling-Projekt ist selbst nur möglich durch die finanzielle Unterstützung einer großen griechischen Stiftung.
Auf den Inseln und in ländlichen Gebieten
Meine Reise verlief auch fernab der Athener Realität: So besuchte ich die kleinen Kykladeninseln Amorgos und Syros und konnte wertvolle Gespräche führen. Auf Amorgos, ein paar Stunden mit der Fähre von Athen entfernt, schläft zwar niemand auf der Straße, aber wenn man die Preise im Supermarkt und an der Tankstelle sieht, wird einem klar, dass die Krise hier nur nicht so sichtbar ist. Als ich mich mit dem Busfahrer unterhalte, erzählt er mir, dass er im Juni, als ich da bin, ein Minus macht, wenn er fährt, weil es zu wenig Touristen gibt. „Ti na kano“, sagt er, „was soll ich machen? Der Bus muss ja fahren.“ Als ich da war, funktionierten zwei der drei Geldautomaten der Insel nicht. Warum? Weil die Firma, die diese bestückt, pleite gegangen ist und sich kein Nachfolger findet – wochenlang müssen deshalb alle – ob Tourist oder Einheimischer – zur einzigen Bank in der Hafenstadt Katapola fahren. Den meisten Cafés ist das zu umständlich: Sie erlauben den wenigen ausländischen Touristen wieder anzuschreiben und zu bezahlen, wenn sie denn mal in die Hafenstadt kommen und dort das Geldabheben möglich ist – unvorstellbar in Deutschland.
Ein Höhepunkt meiner Reise war der Besuch in Arta und seiner Umgebung im Epirus in Westgriechenland, eine der ärmsten Regionen der gesamten Eurozone. Über die griechische NGO Inter Alia bekam ich Kontakt zu Pater Kostas, der in einer kleinen Gemeinde als Lehrer tätig ist und mich mit in seine Schule nahm. Nahe der albanischen Grenze gibt es nur wenig Tourismus, wenig Industrie, eine hohe Arbeitslosenquote und vor allem wenig Chancen für Jugendliche. Ich gehe in die lokale soziale Arztpraxis, eine Struktur, die seit Krisenbeginn in vielen Städten Griechenlands zu finden ist. Sie finanziert sich ausschließlich über Spenden. Einige der Menschen kommen für ein Medikament, das in der Apotheke nur fünf Euro kosten würde, kilometerweit nach Arta gelaufen. Weil sie eben diese fünf Euro nicht haben. Viele Menschen dort zahlen in Raten – auch einfache Dinge wie etwa Kleidung. Für die Geschäftsleute ist das in Ordnung, denn das ist besser, als gar keine Kunden, sagen sie mir.
In der einzigen Schule weit und breit
Mit Pater Kosta fahre ich in ein Dorf in den Bergen. Es ist sein täglicher Schulweg, um Mathe, Chemie, Physik und Bio dort zu unterrichten. Die Schule dort ist die einzige weit und breit, das bedeutet auch, dass einige Kinder über 90 Minuten mit dem Schulbus unterwegs sind. Viele der Schüler dort waren noch nie im Urlaub und können auch die 100 Euro für die Klassenfahrt nicht aufbringen. Kostas ist für seine Schüler so etwas wie ein kleiner Held, der mit den Jugendlichen nach Chancen sucht, ein Stipendium zu bekommen für ein Studium, ein europäisches Projekt, einen Weg raus aus der Region – auch wenn er sie lieber dort behalten würde, um das Potenzial des Epirus auszubauen.
Mit Anastasia, Apostolia, Maria und Marianna, Oberstufenschülerinnen von Pater Kosta, verbringe ich einen Vormittag. Ich merke schnell, dass sie politisch interessiert sind, sich so freuen, dass sie jemand nach ihrer Meinung fragt, fragt, warum es keinen Jugendclub, keinen Sportplatz in ihrem 2000 Einwohner großen Dorf gibt, wo die einzige Beschäftigung ist, in die Cafeteria zu gehen. Viele der Mädchen wollen weg, nach England, Deutschland, einen Beruf lernen, der ihnen Freude macht – und nicht nur den Magen füllt. Nicht das Leben hier fortführen in dem Laden oder Hof der Eltern.
Viele der Familien hier sind konservativ, wollen „anständige“ Jobs für die Kinder – finanzielle Sicherheit ist das oberste Gebot, erzählt mir Pater Kosta. Als mir die 15-jährige Maria sagt, dass es ihr Herzenswunsch sei, einen Job bei der Polizei oder dem Militär zu bekommen, beginne ich zu verstehen, warum das hier kein seltsamer Wunsch ist, sondern Normalität.
Eine Zeit extremer Veränderungen
Es gibt sie, die kleinen Hoffnungsschimmer, Initiativen und Einzelpersonen, die Tolles auf die Beine stellen. Es gibt aber auch die, die am helllichten Tag auf der Straße Drogen nehmen, für die sich fast niemand interessiert, die ohne Suppenküchen bereits verhungert wären. Die Wirtschaftskraft des Landes ist extrem zurückgegangen: Auf Syros sagte man mir, dass der Markt um 70 Prozent eingebüßt habe im Vorkrisenvergleich. Die Kaufkraft nimmt immer weiter ab, der Leerstand an Läden ist weiterhin extrem hoch. Griechenland ist in der Flüchtlingskrise quasi über Nacht von einem Durchgangs- zu einem Aufnahmeland geworden und bewältigt diese in weiten Teilen mit einem erstaunlichen Engagement für andere.
Auf den Hotspot-Inseln ist in der Flüchtlingskrise der Tourismus, oftmals die Haupteinnahmequelle, fast komplett eingebrochen. Aber nicht nur das: Auch hat die Flüchtlingskrise die Bevölkerung und ihr Verhalten verändert. Auf Lesvos erzählt mir Katerina, dass Einwohner zum Beispiel nicht mehr ins Meer schwimmen gingen oder keinen Fisch mehr aßen, weil so viele Menschen darin umgekommen sind. Dinge, die eigentlich zum elementaren Leben eines Inselbewohners gehören.
Etwa ein Fünftel der griechischen Bevölkerung ist armutsgefährdet und das Risiko für Kinderarmut und soziale Ausgrenzung ist von 2010 zu 2014 signifikant gestiegen. An die Erneuerung, die die Politik verspricht, glauben viele der Jugendlichen, mit denen ich gesprochen habe, nicht und wollen gehen. Nicht für 500 Euro arbeiten und auch nicht in einem Job, für den sie überqualifiziert sind. Sie wollen nicht mehr nach dem Studium noch zuhause wohnen, sondern ihr eigenes Leben.
Sinnvolle Zusammenarbeit mit Griechenland muss nicht nur auf der individuellen Ebene stattfinden. Bestehende Strukturen vor Ort, die oftmals sehr gute Arbeit leisten, müssen unterstützt werden. Es muss sensibilisiert werden dafür, dass man die Menschen auf dem Festland nicht genauso behandeln kann, wie Menschen, die auf Inseln leben und mit ganz anderen Problemen zu kämpfen haben. Funktionierende Strukturen für Jugendliche müssten dringend ausgebaut werden und alternative gegründet werden in Gebieten, in denen Jugendliche den Eindruck haben, dass sich ihr Land, ihre Politik nicht für sie interessiert. Dabei nicht vergessen werden dürfen auch die vielen Menschen, die dazugekommen sind und eine zusätzliche Belastung, aber auch Bereicherung für das Land sein können – vergisst man sie, wird es nur noch schwerer. Austausch auf Augenhöhe sollte die Grundlage dessen sein. Gleichzeitig muss strukturell viel getan werden, damit Engagement für andere und politische Mitgestaltung, etwa in Vereinen für junge Menschen ermöglicht wird und nicht weiter das Gefühl verbreitet wird, ihre Stimmen würden nicht gehört.
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