Lisa Berins

Journalistin, Kulturredakteurin, Frankfurt und Offenbach

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Exzentrisch, experimentell und für manche zu wild: Schlingensief in Offenbach

Christoph Schlingensief, fotografiert von Eckhard Kuchenecker. Dieses Bild erschien zum Artikel in der Offenbach-Post und wurde von torial automatisch an diesen Artikel gehängt. Bildrechte bei Kuchenbecker

Sein Leben war ein Urknall irrwitziger, auch genialer Ansichten und Geistesblitze, die mit unendlicher Energie durchs Universum schleuderten, kollidierten, auf die Welt einschlugen: Am Samstag, 24. Oktober 2020, wäre der Künstler, Provokateur, Theater- und Filmemacher Christoph Schlingensief 60 Jahre alt geworden. Er starb 2010 kurz vor seinem 50. Geburtstag an Krebs.


Als junger Mann, noch nicht berühmt und berüchtigt, streifte Schlingensiefs Umlaufbahn Offenbach: Von 1983 bis 1985 lehrte er an der Hochschule für Gestaltung (HfG), drehte Kurzfilme und seinen ersten Langfilm, feierte wild, schloss Freundschaften. Wieso Offenbach? Wir haben nachgeforscht, warum der Ausnahmekünstler herkam, weshalb er die Stadt nach zwei Jahren wieder verließ, und uns gefragt, warum man eigentlich so wenig über Schlingensiefs Arbeit in Offenbach weiß.


Eckhard Kuchenbecker sortiert alte Fotos. Der Aschaffenburger Filmtonmeister besitzt ein ganzes Archiv voller Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Schlingensief. Zum Geburtstag des Künstlers will er einige Bilder in einer Ausstellung zeigen. „Ecki", wie ihn Schlingensief nannte, war in den Achtzigern Student an der HfG; er hatte gerade sein Vordiplom in Fotografie gemacht und sich in die neue Filmklasse eingeschrieben. Als Professor war der aus Mülheim an der Ruhr stammende Regisseur Werner Nekes ernannt worden. Mit ihm betrat auch sein Assistent, der 23-jährige Christoph, die Offenbacher Bildfläche.


Ein paar Monate zuvor hatten sich Schlingensief und Nekes durch einen Zufall in Essen kennengelernt, wie Schlingensief in dem Dokumentarfilm „Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" erzählt, der dieses Jahr im Kino lief. „Nekes hatte gerade ,Uliisses' fertiggestellt", erinnert sich der Künstler. In einer kurzen Szene habe er Nekes erkannt und ihn drauf angesprochen. „Und das fand er toll, dass ich dieses eine Bild gesehen habe, schnell gucken kann. (...) Am nächsten Tag kam der Anruf, ob ich ihm nicht assistieren will", erzählt Schlingensief. So führte sein Weg an der Seite von Nekes nach Offenbach, wo sich die HfG gerade auf dem Terrain des künstlerischen Films ausprobierte.


Wenn sich der Professor dann in Mülheim aufhielt, übernahm Schlingensief den Unterricht an der Kunsthochschule am Main. „Es war schon etwas ungewöhnlich", erinnert sich Kuchenbecker: „Wir waren ja fast alle älter als er oder zumindest gleich alt." Für den im Ruhrgebiet aufgewachsenen Apothekersohn Schlingensief war seine Aufgabe an der HfG Herausforderung und Glücksfall zugleich: „Ich weiß nur, dass die Zeit damals ein Traum war. Endlich mal weg aus Oberhausen", ist in seinem Blog zu lesen. Und: „Wenn ich was nicht wusste, bin ich aufs Klo, wo ich die Gebrauchsanweisung der Arri 2C (eine Filmkamera, a.d.R.) versteckt hatte."


Die Chemie zwischen Studierenden und Schlingensief stimmte

Die Chemie zwischen Dozent und Studierenden stimmte. „Wir haben uns damals alle sehr, sehr schnell freundschaftlich angenähert", erinnert sich Kuchenbecker. Die Gruppe habe sich zu tagelangen Sessions zum Drehen getroffen, oft bei Nekes zuhause in Mülheim oder bei Schlingensief in München, wo er eine Wohnung hatte, und wo sich alle einquartierten. „Am Set hat jeder alles gemacht", erzählt Kuchenbecker: Licht, Requisite, Schauspiel, Regie, Skript, Continuity. Entwickelt wurden die Filme im Labor an der HfG, das die Studierenden selbst betrieben: „Da haben wir experimentiert und zum Beispiel die Negative zwischen Schuh und Boden durchgezogen, um eine gestalterische Verletzung des Bildmaterials zu erreichen", erzählt Kuchenbecker.


1984 entstand der Kurzfilm „My Wife in 5 - ein Episodenfilm"- auch wieder in Schlingensiefs Münchner Wohnung. Es ist eine Abfolge von Geschichten, in denen es unter anderem um „Schneewittchen, König Ludwig und die Weihnachtsgeschichte" ging, wie Kuchenbecker zusammenfasst. Einige Szenen daraus sind auch in der neuen Schingensief-Doku zu sehen.


Die Filme waren für Schlingensief eine „sensationelle Gruppenarbeit"

In seinem Buch „Ich weiß, ich war's" (2012) schreibt Schlingensief über die HfG-Produktionen: „Diese Filme waren wirklich eine sensationelle Gruppenarbeit. Weil wir alle an uns selbst gelernt haben, uns ausprobieren durften und das Prinzip Kamera austesten konnten. Diese Experimentalebene war dort an der Hochschule wirklich sehr fruchtbar, und es sind tolle Sachen entstanden."


Die Arbeit mit Schlingensief war wie ein Rausch. „So etwas wie Wochenenden gab es nicht. Wir haben die Nächte an den Schneidetischen verbracht", sagt Kuchenbecker. Einige Studierende sollen gar nicht mehr nach Hause gegangen sein und an der HfG gewohnt haben.


Die Offenbacher Truppe arbeitete hart - und feierte wild

Ausgelassen war die Stimmung auch ab und zu, wie in Schlingensiefs Blog zu lesen ist: „Wir haben damals sehr viele und sehr wilde Feiern gefeiert. Thomas' Spezialität war es z.B. in der Nacht, wenn wir mal durch die Straßen zogen, die Stromaggregate an den Baustellen in Gang zu bringen. Um 4 Uhr morgens knatterten dann riesige Maschinen und rundherum ging das Licht an. Und wir sind weitergezogen. Eine Feier war so heftig, dass Nekes und ich am nächsten Morgen kaum noch gehen konnten. (...) Und einmal, als ich sehr neben der Kappe war, haben mich Ralf und Thomas in einem Einkaufswagen ins Direktorenzimmer gerollt, wo ich dann mit vollem Tempo gegen den Rektorschreibtisch knallte."


Mit seiner Offenbacher Truppe, im Kern zwölf bis 15 Studierende - darunter der Fotograf Thomas Göttemann und der Kameramann Ralf Malwitz - arbeitete Schlingensief auch an seinem ersten Langfilm, „Tunguska - die Kisten sind da" (1983/84). Dessen Uraufführung bei den Hofer Filmfesttagen war ein kleines Drama: Dort entzündete sich der Film - zuerst als Trick gedacht, dann schmorte es wirklich ...


Die Zeit in Offenbach endete für Schlingensief abrupt

Dann endete die Offenbacher Zeit abrupt. Unruhe war an der HfG aufgekommen: Nicht alle waren mit den wilden Filmleuten einverstanden. „Der Dekan hatte sich fürchterlich über die Art des Unterrichts aufgeregt", erinnert sich Helmut Herbst. Der heute 85-jährige Filmemacher kam 1984 von Berlin an die Offenbacher Kunsthochschule: Sein Kollege und Freund Werner Nekes hatte ihn damals gefragt, ob er sich die Filmprofessur mit ihm teilen wolle.


Dazu kam es aber nicht: „Nekes wurde nahegelegt, die Schule zu verlassen. Er war den Leuten, die mehr an eine traditionelle Kunsthochschule glaubten, zu abgehoben. Einige haben sich daran gestoßen, dass er die meiste Zeit nicht anwesend war und ein großer Teil des Unterrichts gar nicht in Offenbach stattfand", sagt Herbst.


Filmemacher Helmut Herbst bedauert bis heute den Weggang Schlingensiefs: Eine verpasste Chance 

Und so kam es, dass der „Experimentalfilm-Guru" Nekes abzog - und auch Schlingensief nicht an der Schule blieb. Leider, wie Helmut Herbst findet. „Die beiden, Nekes und Schlingensief, hatten etwas Fantastisches, sie waren nicht nur der große Zampano und der talentierte Nachwuchsregisseur, sondern beide gnadenlos frech und mit überwältigender Ausstrahlung." Dass die Hochschule sie nicht halten konnte - damit habe sie sich selbst keinen Gefallen getan.


Bis heute ist ihr berühmter Kurzzeit-Dozent eher eine Randnotiz in der Schul-Historie. Herbst, der bis ins Jahr 2000 an der HfG Filmprofessor war, bedauert das. Er findet, dass die Hochschule eine Lehre daraus ziehen und sich stärker mit dem künstlerischen Autorenfilm im Sinne Schlingensiefs profilieren sollte.


Schlingensief: „Wir werden uns im universellen Nichts wiederfinden"

Mit dem Kurzfilm „Bye Bye" verabschiedete sich Schlingensief aus Offenbach. Die Zeit am Main behielt er in guter Erinnerung: „Es ging nicht darum, zwanghaft originell zu sein, es ging um die Erforschung von Möglichkeiten. (...) Dass das manchmal chaotisch wirkt und dass da auch mal was in die Luft fliegt, ist ja klar. Aber manchmal kommt auch etwas Tolles heraus bei einer solchen Explosion", hielt er 2012 in seinem Buch fest.


„Ecki" und einige andere Freunde aus der Offenbacher Zeit, darunter der Kameramann und Lichtgestalter Voxi Bärenklau, haben den Künstler noch lange Zeit begleitet. Zwölf Jahre lang war Kuchenbecker bei den Dreharbeiten dabei, unter anderem bei den Produktionen „Mutters Maske" ('87/'88), „Das deutsche Kettensägenmassaker" ('90) und bei „United Trash" ('96). Dann konzentrierte sich Schlingensief aufs Theatermachen, die Wege trennten sich. Schlingensief und Kuchenbecker verloren sich aus den Augen. Obwohl, wer weiß schon, ob man das so sagen kann.


Im Dokumentarfilm „Ins Schweigen hineinschreien" ist ein Ausschnitt aus dem Abschiedsfilm „Bye Bye" zu sehen, in dem Schlingensief seinen Mentor Werner Nekes spielt. Dazu sagt Schlingensief aus dem Off: „Wir werden uns im universellen Nichts wiederfinden, und da drehen wir die eigentlichen Filme."


Von Lisa Berins

Ausstellung, Film und Blog

Die Ausstellung „Christoph Schlingensief ... Projektionen von Eckhard Kuchenbecker" läuft bis Ende November im Kunstraum EI, Dalbergstrasse 54, in Aschaffenburg. Da der Raum wegen der aktuellen Corona-Situation geschlossen bleibt, ist die Installation täglich bis ca. 23 Uhr durch das Schaufenster zu sehen. Bei Dunkelheit wirkt die Lichtinstallation am besten ( www.tuver.de). Der Film „Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" von Bettina Böhler soll voraussichtlich im Februar 2021 als DVD erscheinen. Schlingensiefs Blog ist unter schlingenblog.wordpress.com nachzulesen.

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