Lisa Berins

Journalistin, Kulturredakteurin, Frankfurt und Offenbach

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Artikel

Wie man Literatur den Laufpass gibt

Wohin bloß mit all den alten Büchern? Das habe ich mich beim Ausmisten meiner Lieblinge gefragt. © Berins

Bücher ausmisten - das ist mit das Schwierigste, ja, Brutalste, was sich ein Mensch mit langjähriger Lesebiografie selbst abverlangen kann. Ich muss es tun, denn in meiner Wohnung brauche ich Platz für einen zweiten Haushalt. Umzugskisten voller Bücher, kein Keller - wohin nur mit den Schätzchen? Ein Erfahrungsbericht darüber, wie man die gedruckten Lebensgefährten - wenn man muss - am besten los wird und warum das eigentlich so verdammt schwer ist.


Offenbach - Eine Nacht- und Nebelaktion am helllichten Tag. Mit dem Auto brause ich um die Kurve. Da ist es! Ein kleines Häuschen, in dessen Scheiben sich die Wohnblocks spiegeln. Der Bücherschrank - gedacht als Austausch-Ort für Second-Hand-Literatur; in meinen Augen: ein kleiner Bücherknast. Wie viele Insassen dort wohl Monate und Jahre verbringen, schlimmstenfalls verknackt zu „lebenslänglich"?


Ich meine, ein leises Wimmern aus den überfüllten Stoffbeuteln auf dem Rücksitz zu hören, das Winseln von Entführungsopfern, die ihr grausames Schicksal erahnen. Ich steige aus, wuchte die schwere Bücherfracht von der Rückbank; sie wehrt sich mit aller Kraft. Trage sie über die Straße, ziehe die Tür des Bücherschranks auf und stocke: Kein Platz! Die Bücher landen wieder im Auto. Sie atmen auf, glaube ich zumindest. Ein weiterer Versuch, meine alten Freunde loszuwerden, ist gescheitert.


Dass die Aktion „Bücherausmisten" zur Herausforderung wird, war mir klar. Dass sie so schwer sein wird, allerdings nicht. Ein paar Wochen zuvor hatte ich einem Antiquar einige Fotos meiner aussortierten Werke gezeigt. Der hatte nur gelacht: „Davon hab ich Tausende!" Ich hatte ihn etwas perplex angeguckt. Wie naiv war ich nur zu denken, dass irgendwer Interesse an meinen ausgelesenen, speckigen, mit Zetteln beklebten, teils bekritzelten, teils kaffeebefleckten Lieblingen hat? „Und was soll ich jetzt mit denen tun?", fragte ich, und wollte eigentlich gar keine Antwort hören. Die kam auch nicht. Stattdessen drehte der Antiquar eine Handfläche nach oben und katapultierte den daraufliegenden, unsichtbaren Inhalt über seine Schulter ins Nichts. WEGWERFEN? NIEMALS!


Wie könnte ich auch? Diese kleinen, eigensinnigen Papierwesen haben mich in den vergangenen 30 Jahren begleitet, mir mit Rat zur Seite gestanden, mir ungeahnte Welten eröffnet, meine Denkweise und wahrscheinlich auch meine Persönlichkeit nicht unwesentlich beeinflusst.


Das rotleuchtende „Menschenkind" von Toni Morrison, mit dem ich gekämpft habe und das einem fast den Glauben an die Menschlichkeit raubt. „Das andere Geschlecht" von Simone de Beauvoir, das in der WG-Küche flammende Gender-Diskussionen mit verhärteten Fronten entfacht hat. Der dystopische Roman „Der Report der Magd" von Margaret Atwood, der einen die Ungerechtigkeit in der eigenen Welt vor Augen führt. „Sofies Welt" von Jostein Gaarder, das mir in der Schule zu einer Eins in Philosophie verholfen hat, „Mister Aufziehvogel" von Haruki Murakami, das mich von der Existenz metaphysischer Parallelwelten überzeugte, oder James Joyce' „Ulysses"- immer und immer wieder angefangen. Ein ewiges Ringen, dem ich mich trotz der Tipps einer Bekannten - sie hatte das Buch über Jahre auf der Toilette gelesen - geschlagen gegeben habe. Und das sind nur ein paar Beispiele, die das Verhältnis zu meinen geistigen Freunden illustrieren. Wenn ich sie schon weggeben muss, dann möchte ich, dass meine Bücher weiterexistieren, dass sie auch für die nächste Leserin oder den nächsten Leser die Gedanken und Träume freigeben, die in ihnen schlummern.


„Dieser Wunsch, dass die gebrauchten Bücher in ,gute Hände' gelangen, klingt, als würde man seinen Hund ins Tierheim geben", sagt Ute Schneider, Professorin der Buchwissenschaft an der Universität Mainz. Prima, denke ich, auf die Wissenschaft ist Verlass; da zählt keine Romantik. Auf der Suche nach Experten, die sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Buch beschäftigen, war ich an der Gutenberg-Universität fündig geworden: Dort wird schließlich im Namen desjenigen geforscht, der uns den Schlamassel durch die Erfindung des Buchdrucks eingebrockt hat.


Ute Schneider ist Akademische Direktorin am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, und sie befasst sich unter anderem damit, wie wir mit Büchern umgehen und welche gesellschaftliche Funktion sie haben. Jetzt hoffe ich, dass sie mir auf die Sprünge helfen kann, bei einem Problem, das offensichtlich ein gesellschaftliches ist: Ich bin schließlich nicht die Einzige, die sich nicht von ihren Büchern trennen kann.


„Dass man eine emotionale Bindung zu Büchern aufbaut, ist durchaus nicht ungewöhnlich", sagt die Professorin. Das Lesen sei eine intime Handlung, oft verbinde man persönliche Erinnerungen damit, wie und wann man sich mit einem literarischen Werk beschäftigt hat. Viele Menschen nutzten das Buch darüber hinaus als „Medium zur Identitätsarbeit", sagt Schneider.


Und auch das sei nicht erstaunlich, denn Bücher, so formuliert es die Wissenschaftlerin in einem Aufsatz von 2018, eigneten sich besonders dazu, „den eigenen Geschmack, die eigene Bildung und geistige Haltung, ja die gesamte soziale Identität auszudrücken". Sie spiegelten, ähnlich wie zum Beispiel die eigene Kleidung oder Wohnungseinrichtung, die Persönlichkeit des Besitzers wider. Im Vergleich zu anderen „Requisiten" sei die Literatur aber besonders geeignet, eine intellektuelle Überlegenheit zu demonstrieren. Das gefüllte Bücherregal - es hat in diesem Zusammenhang eine besondere Funktion.


„Wenn Sie in eine neue Wohnung kommen, was machen Sie? Sie schauen zuerst in das Bücherregal, und dann wissen Sie gleich, mit wem Sie es zu tun haben. Zumindest ist das die allgemeine Annahme", sagt Schneider. Eine sehr bildungsbürgerliche Idee - aber das Buch habe tatsächlich auch heute noch diese starke Symbolkraft; Schneider spricht in Anlehnung an den französischen Sozialphilosophen Pierre Bourdieu sogar von einem „symbolischen Kapital des Buchs". „Schauen Sie sich an, wo Wissenschaftler, Intellektuelle, Politiker, Präsidenten bei Interviews im Fernsehen platziert werden: fast immer vor einem Bücherregal. Warum? Um ihre Kompetenz noch einmal zu untermauern."


Nach dem Gespräch kommen mir Zweifel: Die Liebe zu meinen Büchern - ist sie echt? Oder doch eher Angeberei? Habe ich meine Bücher etwa jahrelang zu Zwecken der Selbstinszenierung missbraucht? Besteht unsere Beziehung womöglich aus rein egoistischen Besitzansprüchen? Wenn das so ist, denke ich, vielleicht etwas zu übermütig, dann weg mit den buchgewordenen Eitelkeiten!


Den Elan dieser Erkenntnis nutzend, tippe ich auf meinem Smartphone rum: Wohin mit ihnen? Wer könnte daran interessiert sein? Auf Instagram finde ich unter dem Hashtag #bookstagram Millionen Beiträge von Usern, die Literatur und sich selbst mit ihren Buchlieblingen inszenieren; oft in einer gemütlichen Leseatmosphäre, in der sorgsam Kaffeetassen oder Weingläser arrangiert sind. Das Buch als Attribut für einen modernen, entschleunigten, genussvollen Lifestyle - da sollten sich doch Abnehmer für meine Bücher finden lassen!


Ich starte eine kleine Umfrage auf Instagram und bekomme den Tipp, Momox auf dem Handy zu installieren; eine App, mit der man den Barcode von Büchern einscannen und dann ihren Wert auf der Plattform ermitteln kann. Für meine gesammelten Werke werden lediglich Cent- oder kleinere Eurobeträge angezeigt, manche Bücher will Momox gar nicht ankaufen. Sehr enttäuschend. Mag ja sein, dass meine Lesebiografie aus einem symbolischen Kapital besteht, ganz unsymbolisch gesprochen heißt das aber: aus Ramschware! Gibt es denn für gebrauchte Exemplare wirklich keinen Markt?


Sibylle Wieduwilt, Vorsitzende des Verbands Deutscher Antiquare, sollte das wissen. Am Telefon sagt sie, dass die Nachfrage seit Jahren tatsächlich sehr gering sei. Das habe zum einen damit zu tun, dass generell weniger gelesen werde, und zum anderen, dass der Neubuchmarkt immerzu wachse. „Jedes Jahr kommen so viele neue Bücher heraus. Warum sollte man da zum Beispiel noch gebrauchte Romane kaufen?", fragt Wieduwilt, die auch Inhaberin des Frankfurter Antiquariats „Tresor am Römer" ist.


Wertvoll seien nur wenige, ganz seltene Exemplare: vor allem sehr alte Bücher und solche mit einer kleinen Auflage. „Wenn es nur 100 bis 200 Exemplare gibt, ist das schon mal ganz gut", sagt Wieduwilt. Aus dem 20. Jahrhundert könnten Sonderausgaben und Ausgaben mit Illustrationen von Künstlern, vielleicht sogar mit Signaturen einen Wert erzielen, ebenso bestimmte wissenschaftliche Literatur aus den 1950ern und 1960ern.


In meinen Umzugskisten finde ich nichts dergleichen. Und nun, was rät sie mir, wohin mit meinen Büchern? „In die Papiertonne! Zeitungen bewahren Sie ja auch nicht über Jahrzehnte auf." Dass viele Menschen es nicht übers Herz brächten, wertlose Bücher wegzuwerfen, liege sicher auch daran, dass man an die Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten denke und die damit verbundene Vernichtung von Wissen. „Aber heute ist das ja ganz anders: Bücher sind ein Massenprodukt, und eine politische Instrumentalisierung durch ihre Vernichtung ist gar nicht mehr möglich."


Also gut. Ich sitze da, blicke auf die Kartons. Jetzt wirklich zum Müll damit? Ich sage mir, dass das nur Papierdinger sind, Träger von Erinnerungen, die man vielleicht auch auf andere, platzsparendere Weise festhalten könnte, vielleicht mit Fotos. Dass diese Bücher lediglich Symbole von Bildung und Zeichen von Überheblichkeit sind. Scheint erst mal zu klappen. Dann fällt mein Blick auf einen orangefarbenen Leineneinband: „Momo" von Michael Ende. Es knirscht beim Aufschlagen. Auf der Innenseite steht mein Name, hineingeschrieben mit der ehrfürchtigen Schrift einer Zehnjährigen, die gerade etwas Magisches entdeckt hat und es sich zu eigen macht.


Ich klappe das Buch zu - knirsch -, gehe zum neuen Bücherregal, das nach strengen Kriterien ausgewählte Exemplare enthält. Ziehe den dicken Band „Pioniere der sowjetischen Architektur" heraus und stelle das orangefarbene Buch dahinter. „Momo" darf bleiben. Nur für mich. Dann sehe ich, dass in zweiter Reihe eigentlich noch viel Platz ist. Simone de Beauvoir, Jostein Gaarder, Michel Houellebecq, George Orwell, Margaret Atwood und ein paar andere - auch sie passen noch da hin. Dann klappe ich die Umzugskisten zu, schreibe mit dickem Stift „Flohmarkt" drauf und überlege, wo es einen Verkauf zum guten Zweck geben könnte. Das ist dann aber wirklich eure letzte Chance vor dem Mülleimer, Freunde!


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