In der Pandemie sind die Freunde in die Ferne gerückt; näher kamen die Leute von nebenan. Fünf Geschichten zum Tag der Nachbarschaft.
Hinter der Wand
Es ist Sommer und Pandemie. Ich bin eben in Paris umgezogen, fasse mir ein Herz und klopfe an der Tür nebenan. Ich will mich dem Nachbarn vorstellen. Denn wir teilen die Toilette auf dem Flur. So ist das bei den chambres de bonne, in denen früher die Dienstmädchen wohnten. Hinter verschlossener Tür brüllt er: „Komm rein!" Er denkt, ich sei seine Mutter. Sie ist die Hausverwalterin, wohnt im Erdgeschoss und hat einen Schlüssel. Als er mir entnervt öffnet, sagt er nur: „Wir haben uns doch schon im Flur gesehen." Mein Nachbar studiert Management, so viel ziehe ich ihm noch aus der Nase.
Aber ich gebe nicht auf. Wenn ich seine Schlüssel klimpern höre, öffne ich meine Tür einen Spalt und tue so, als sei ich auf dem Sprung. Ich frage: „ Ça va? " Nur, auf dem Sprung wohin - wir dürfen ja das Haus nicht verlassen, nur zum Einkaufen oder um eine Stunde spazieren zu gehen. Das muss schriftlich bestätigt werden.
Mein Nachbar isst immer sechs Etagen tiefer bei seiner Mutter, aber das kapiere ich erst nach einer Weile. Als mein Internet installiert wird und mein Nachbar über die Kabel im Flur stolpert, sagt er: „ Ah oui, l'internet?" Ja endlich, sage ich, und schönen Tag noch, als er schon um die Ecke biegt.
Ich kenne ihn also nicht wirklich, meinen Nachbarn. Aber er ist der auf der anderen Seite der dünnen Wand; ein Mensch, in echt, nicht auf dem Bildschirm.
Eigentlich ist es meist still drüben bei ihm. Manchmal aber Wutschreie, er schlägt auf den Tisch, so stelle ich mir das vor, denn es gibt einen Schlag. Manchmal lacht er laut auf. Irgendwann verstehe ich, dass er viele Stunden Videospiele spielt. Wann habe ich das letzte Mal so gelacht, wann war da so viel Adrenalin? Das ist vielleicht das Schlimmste an der Isolation. Die nicht mitgeteilten Gefühle.
Alle ein, zwei Wochen rattert der enge Aufzug abends los, fährt hoch, runter, hoch, runter, hoch. Ich gehe noch mal auf Klo, sehe sechs Paar Sneaker vor seiner Tür stehen und weiß: Diese Nacht mache ich kein Auge zu.
Oft kommen seine Freunde genau dann, wenn ich am nächsten Morgen für die Online-Uni fit sein muss. Aber ich beschwere mich nicht. Das la vie française ist statt in einer Bar jetzt nebenan. Wenn einer mal die Stimme hebt, schallen Wortfetzen zu mir, und junge Männer heben oft die Stimme, wenn sie trinken. Es geht viel um ihre meufs, um ihre Girls.
Aber zu hören, dass da Leben ist, nebenan, das trägt mich durch die Pandemie. Zu wissen, da ist einer, ein Mensch. Wenn auch hinter der Wand.
„ Ça va?" fragt er mich jetzt, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen. „ Ça va, et toi?", antworte ich dann.
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