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Interview

„Dünger für’s Gehirn“

Jan Mersch ist das, was man einen Tausendsassa nennt. Er hat die Berge der Welt erklommen, junge Alpinisten ausgebildet und die Snowcard mitentwickelt. Als Bergführer hilft er seinen Kunden dabei, ihre alpinen Träume umzusetzen. Und als Psychologe unterstützt er Klienten darin, ihre Probleme zu bewältigen. „Mensch und Berge“ nennt er sein besonders Coachingkonzept, das alle Kompetenzen vereint. Ein Gespräch über die Konsequenzen der Freiheit, narzisstische Alpinisten – und den Berg als Couch.

Jan, in einem Interview hast du 2007 gesagt: „Verzicht, Abenteuer, Demut, Eigenverantwortung & Co. gibt es eigentlich nicht mehr im Bergsteigen.“ Siehst du das heute noch genauso?

Absolut, das würde ich immer noch unterschreiben. Diese Tendenz hat sich sogar verstärkt. Die wenigsten Menschen gehen heute in die Berge, um sich dort zu spüren, herauszufordern oder demütig zu fühlen.

Woran liegt das?

Ich glaube, das hat viel mit den sozialen Medien zu tun. Du bist in den Bergen unterwegs, es ist wunderschön und plötzlich macht es pling, pling, pling um dich herum, weil permanent irgendwelche Selfies geknipst und verschickt werden. Die Leute sind nicht im Hier und Jetzt und nicht bei den Menschen, die sie umgeben. Sondern an irgendwelchen anderen Orten, bei irgendwelchen anderen Menschen, denen sie etwas mitteilen müssen. Wie viel Zeit einige in und mit ihrem Handy verbringen, finde ich fürchterlich.

Du hast dich in verschiedenen Funktionen mit Risikomanagement im Bergsport beschäftigt. Was würdest du sagen: Verändert diese Entwicklung auch unseren Umgang mit alpinen Gefahren?

Ja, die Wenigsten setzen sich intensiv damit auseinander. Lieber wird die neueste Handy-App geladen oder für teures Geld ein Airbag gekauft. Die Verantwortung wird delegiert, indem man die Pisten-Skitour auf die Kampenwand geht oder irgendwelchen Bloggern nachläuft, die vorgeben, wann die Bedingungen passen. Das Explorative findet immer weniger statt.

Von dir stammt auch das Zitat: „Bergsport ist zum Spiegel unserer Wellness-Gesellschaft geworden.“ Bedient man nicht genau diese Mentalität als Bergführer und auch als Coach? Immerhin können dir die Kunden in beiden Rollen einen Teil der Verantwortung übertragen.

(Lacht) Gute Frage. Als Bergführer erlebe ich mich als Dienstleister. Und der Kern meiner Dienstleistung besteht darin, dass ich die Augen meines Gastes zum Leuchten bringe. Ich helfe ihm bei der Suche nach den eigenen Wünschen und sorge dafür, dass sie in Einklang mit seinen Realitäten stehen. Beim Coaching bringen die Klienten ein Thema mit, das sie gerne bearbeiten würden. Manche glauben: Ich gehe jetzt da hin und zack, ist mein Problem gelöst. Diesen Zahn ziehe ich aber schnell. Ich mache klar, dass ich nur Hilfestellungen und Begleitung geben kann. Das Tempo und die Tiefe bestimmt der Klient selbst. Und wenn er sich im Coachingprozess seiner Biografie und seinen Emotionen stellt, hat das nicht mehr viel mit Wellness zu tun. Die Auseinandersetzung ist oft aufwühlend.

In beiden Fällen kannst du also nicht die Anstrengung nehmen, sondern nur einen sicheren Rahmen schaffen?

Genau. Mein Führen bedeutet, jemanden zu begleiten und zu unterstützen. Aber ich nehme ihm die Mühen nicht ab.

Oft vermischen sich beide Rollen: Deine Coachinggespräche finden nicht nur in bequemen Sesseln, sondern auch auf Bergtouren statt. Als Psychologe unterstützt du dort die Klienten auf ihrem inneren Weg, als Bergführer passt du auf, dass sie dabei nicht abstürzen. Wie schwer ist für dich der Spagat zwischen verantwortlichem Experten und empathischem Begleiter?

Diese Parallelität macht die große Anstrengung für mich aus, weil die Rollen ganz unterschiedliche Haltungen erfordern. Als Bergführer muss ich sagen, wo es lang geht, und Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Als Therapeut bestimme ich nicht die Richtung, sondern unterstütze einen inneren Prozess. Je alpinistischer die Rahmenbedingungen sind, desto schwieriger wird der Wechsel.

Das gilt wahrscheinlich auch für den Klienten.

Ja, einerseits muss er sich meinen Kommandos fügen, andererseits bei seinen Themen einen individuellen Weg finden. Wenn die Tour sehr schwierig ist oder die Bedingungen zu ungemütlich sind, kann es schon mal sein, dass man die Gespräche auf den Nachmittag oder den Abend verschieben muss.

Mit welchen Anliegen kommen Menschen zu dir, die deine Unterstützung als Coach und Psychologe suchen?

Typische Themen sind Krisen und Konflikte, sei es privat oder beruflich. Andere wollen Verhaltensmuster verändern und sich persönlich weiterentwickeln. Aber auch Ängste, Burnout und Depressionen spielen eine Rolle.

Die Gespräche verlagerst du nach draußen, oft gehst du mit deinen Klienten an den Berg. Wie kann diese Umgebung ihnen helfen?

Sie finden dort Zeit, Raum und Ruhe. Auf einer Bergtour kommt man in einen Rhythmus, man kann sich selbst spüren und neue Perspektiven finden. Man erlebt sich als selbstwirksam, man entschleunigt, man schöpft Kraft und freut sich über das Erlebnis. Diese Erfahrungen sind wie „Dünger für’s Gehirn“ und der ist hilfreich für den eigenen Prozess. Aber auch nicht mehr: Die Berge sind nicht die Lösung, sondern nur der Rahmen. Sie alleine machen die Situation nicht besser.

„In meinem Leben ist es steil und steinig, in den Bergen ist es steil und steinig“ – so simpel ist der Transfer also nicht?

Nein, wenn ich in der Stadt bin, bin ich halt nicht in den Bergen. Da muss ich mir anderer, innerer Ressourcen bewusst sein. Deshalb ist es nicht zielführend, jemanden dahin zu entwickeln, sich möglichst oft in den Alpen rumzutreiben. Ein halbes Jahr lang auf der Alm Kühe zu melken hilft danach im Alltag überhaupt nicht. So werden Berge zum reinen Fluchtraum und das finde ich bedenklich.

Auf welchem Weg bringen uns Bergerlebnisse dann im „normalen“ Leben weiter?

Dadurch, dass uns das Bergsteigen näher zu uns selbst bringt. Unser Kern kommt deutlicher zum Vorschein und wir spüren klarer, was wir brauchen. Denn wir sind in der Natur aus unseren üblichen sozialen Welten und Verhaltensmustern rausgerissen und bekommen einen anderen Blickwinkel auf uns selbst. Das ist bei vielen Themen unglaublich hilfreich.

Gehst du selbst in die Berge, wenn du bei einem Problem nicht weiterkommst?

Ja, für mich ist das Bergsteigen wichtig, um Themen zu sortieren, die mich beschäftigen. Das klappt vor allem beim Klettern, wenn ich jeglichen Leistungsgedanken zuhause lasse. Es hilft mir, mich zu fokussieren, meine Mitte zu finden und wortwörtlich auf die Füße zu kommen. Beim Klettern sind alle Gedanken weg. Danach fühle ich mich zentriert und erfrischt.

Passend dazu hast du die Berge mal als einen „Raum für persönliches Wachstum“ bezeichnet. Kannst benennen, welche Erfahrungen dich besonders vorangebracht haben?

Das ist schwer. Ich blicke ja mittlerweile schon auf eine längere Bergsteigerbiografie zurück. Besonders prägend war für mich aber die Zeit in der Jungmannschaft des Traunsteiner Alpenvereins. Ich kam aus behüteten Verhältnissen und konnte plötzlich die totale Freiheit erleben. Keiner wusste, was wir in dieser Truppe eigentlich treiben, das war ein einziges, riesiges Abenteuer. Als ich 15 war und mein Bruder 13, haben wir zum Beispiel unsere Eltern überredet, uns in den Lienzer Dolomiten auszusetzen. Mit einem Kletter-Einsteigerset und ohne eine blasse Ahnung sind wir dort die 3er-, 4er-Touren durchgestiegen.

Und es ging rasant weiter…

Ja, das war echt vogelwild. Kaum zwei Jahre später sind wir in den Frendopfeiler an der Aiguille du Midi eingestiegen – als erste Westalpen-Hochtour überhaupt. Wir haben da nicht vorher mit den Steigeisen am Zuckerhütl-Normalweg rumgetan. Es war großes Glück im Spiel, dass wir solche Aktionen überlebt haben. Gleichzeitig war die Zeit unglaublich lehrreich und ein Meilenstein für mich. Die Freiheit und die damit verbundene Eigenverantwortung waren brutal spürbar.

Bevor du dich dann an die großen Berge der Welt gestürzt hast – Pik Lenin, Latok II, Ogre, Grandes Jorasses – hast du dein bergsteigerisches Treiben erstmal auf solidere Beine gestellt und eine Bergführerausbildung gemacht.

Dort habe ich mein alpinistisches Tun zum ersten Mal bewusst reflektiert. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung und hatte gerade einmal drei Jahre Erfahrung im Rücken. In der Ausbildung konnte ich viel aufsaugen und adaptieren. Ich hatte hervorragende Ausbilder, die mich sehr geprägt haben. Das waren klassische Haudegen, aber ihre Lektionen hatten Hand und Fuß.

Mittlerweile hast du mehr als 35 Jahre Bergerfahrung in den Knochen und die Alpinistenszene über Jahrzehnte hinweg erlebt. Was sagst du, wenn du mit der Psychologenbrille auf deine Zunft schaust? Ist was dran am Klischee des narzisstischen, selbstverliebten Bergsteigers?

Ein bisschen was schon. Es gibt einige Kollegen, die ganz gut in sich selbst verliebt sind. Ohne einen gewissen Egoismus und Selbstbezug kommst du im Alpinismus auch nicht sonderlich weit. Aber es gibt natürlich sehr unterschiedliche Typen, die kann man nicht über einen Kamm scheren.

Gibt’s Kandidaten, die du gerne zu Therapiesitzungen einladen würdest?

Bei manchen frage ich mich schon: Was ist eigentlich los mit dir? Das sind oft schwierige Charaktere aus der Bergführerclique. Bei uns schwingt ja auch immer der Aspekt des gescheiterten Alpinisten mit. Einige haben sich nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, was der Kern ihres Berufs ist. Diese Spezialisten glauben, dass sie durch ihre Arbeit das eigene Bergsteigen verwirklichen können. Das finde ich sehr schwierig. Für mich ist das nicht machbar.

Hilft dir dein psychologischer Hintergrund, um dein eigenes Treiben kritischer zu hinterfragen?

Mir ist zumindest bewusst, dass wir Bergsteiger ein großes Sendungsbewusstsein haben. Wir glauben gerne, dass man kein zufriedenes Leben führen kann, wenn man nicht ständig auf irgendwelche Gipfel klettert. Würden das nur alle machen, wäre die Welt ein viel besserer Ort. Dieser Blick auf das Bergsteigen ist natürlich völlig überhöht. Man kann auch auf viele andere Art ein erfülltes Leben haben. Nur ich eben nicht.