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Feature

Herzschmerz

Noch nie starben so wenige Betroffene an einem Herzinfarkt wie heute. Doch noch immer ist die Erkrankung eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland. Chest Pain Units kämpfen gegen diesen Missstand an.

Drei weiße Kittel beugen sich über den Ausdruck, über eine schwarz gezackte Linie auf weißem Papier. Sechs Augen richten sich auf den QRS-Komplex, die P-Welle und die ST-Strecke des Elektrokardiogramms. Stethoskope lehnen sich aus den Taschen der Assistenzärzte, mintgrüne Beine enden in fußfreundlichen Turnschuhen. Monitore zeichnen orange, grüne, blaue Linien und buhlen piepsend um Aufmerksamkeit. Ein Whiteboard an der Wand verkündet, wessen Herzrhythmen, Blutdruckwerte und Atemfrequenzen dort beharrlich über den Bildschirm fließen. Wessen EKG eines kritischen Blickes bedarf. Wessen Herz seinen Besitzer auf die Chest Pain Unit des Deutschen Herzzentrums München gezwungen hat. 

Rund 10 Patienten mit Brustschmerzen werden in der kardiologischen Notaufnahme pro Tag behandelt. Eine der größten Gruppen: Menschen mit Herzinfarkt. Kurze Wege, standardisierte Abläufe und die Nähe zu den wichtigen diagnostischen Abteilungen sorgen dafür, dass sie alle notwendigen Maßnahmen binnen weniger Minuten nach ihrer Ankunft durchlaufen. „Das Prinzip der Chest Pain Units hat sich als sehr erfolgreich durchgesetzt“, sagt Prof. Heribert Schunkert, Direktor der Klinik. „Diese sehr spezialisierten Einheiten garantieren eine schnelle und umfassende Versorgung.“ Keine unnötigen Zeitverluste bei der Diagnose und Therapie von Herzerkrankungen – dieses Ziel verfolgen rund 250 zertifizierte Units in Deutschland. 

Dass deren Arbeit dringend benötigt wird, zeigt sich mit Blick auf die Statistik. So sind Herz-Kreislauf-Krankheiten in den Industrienationen die häufigste Todesursache  bei Erwachsenen. Ganz vorne mit dabei: die koronare Herzkrankheit. Wissenschaftler schätzen, dass diese Diagnose hierzulande bei sieben Prozent der Frauen und neun Prozent der Männer  schon einmal gestellt wurde. Bei ihnen haben sich im Laufe der Jahre Fett- und Kalkablagerungen an der Innenwand der Herzkranzgefäße abgesetzt. Diese sogenannten Plaques verengen die Adern, die den Herzmuskel mit Blut versorgen, und führen dazu, dass das Pumporgan nicht mehr ausreichend versorgt wird. Der Höhepunkt dieses schleichenden, oft unbemerkten Prozesses: ein Herzinfarkt, auch Myokardinfarkt genannt. Rund 220.000 Fälle werden mit genau diesem Befund jedes Jahr stationär in Deutschland behandelt. Über zwei Drittel davon sind Männer; die meisten Patienten zwischen 75 und 85 Jahre alt . Bei ihnen wird aus der Verengung plötzlich ein Verschluss, aus einer chronischen Krankheit ein akutes Problem. Denn bricht die Oberfläche des Plaques auf, wird die eingerissene Stelle von den vorbeiströmenden Blutplättchen abgedeckt. Ist das Gerinnsel, der Thrombus, groß genug, verstopft er das Herzkranzgefäß komplett. Damit kappt er Teile des Herzmuskels von der Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr, das umliegende Herzmuskelgewebe stirbt ab. Die Folge: Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen und im schlimmsten Fall der Tod.

Das Konzept der Chest Pain Units (CPU) trägt dazu bei, dass dieser schlimmste Fall immer seltener eintritt. Starben 1990 noch 85.600 Menschen an einem akuten Myokardinfarkt, waren es 2015 noch 49.200. Den Grund für dieses Minus von fast 43  Prozent sieht Prof. Michael Joner vor allem in der verbesserten Therapie: „Im akuten Infarkt kann das Gefäß mittlerweile schnell wieder geöffnet werden, da hat sich die Diagnostik- und Interventionstechnik sehr verfeinert.“ Optimierte Abläufe im Rettungssystem, eine höhere Dichte an spezialisierten Klinikabteilungen und moderne, hochpotente Medikamente trügen außerdem dazu bei, so der Oberarzt der CPU am Deutschen Herzzentrum München, dass ein Herzinfarkt immer seltener einem Todesurteil gleicht.

Doch trotz dieser positiven Entwicklung rangiert der akute Herzinfarkt noch immer an zweiter Stelle der Todesursachen in Deutschland . Seit 1998 hält er eisern diesen Platz. Dafür ist vor allem eine Komplikation des Herzinfarkts verantwortlich: das Kammerflimmern. Wird der Herzmuskel nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt, reagiert er mit Rhythmusstörungen auf diesen Mangel. Der Ablauf der elektrischen Erregung wird gestört, die Herzmuskelzellen kontrahieren nicht mehr synchron. Dann können nur noch die starken Stromstöße einer Defibrillation verhindern, dass der Betroffene innerhalb kürzester Zeit verstirbt. „Im Zuge eines Infarktes kann es außerdem zu Herzinsuffizienz, Herzklappenfunktionsstörungen und Herzkammerrupturen kommen, die ebenfalls in den meisten Fällen tödlichen enden“, weiß Joner. „Je früher man den Gefäßverschluss wieder öffnet, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für derartige Komplikationen.“ Deshalb gelte in jedem Fall: „Time is muscle.“

Zeit ist Muskel. Nach diesem Prinzip ist auch die Chest Pain Unit des Deutschen Herzzentrums organisiert. Drei Ärzte und sechs Pflegekräfte teilen sich einen Raum. Die Laufwege sind ebenso kurz wie die der Kommunikation. Unter dem Geburtstagkalender und der Kaffeeliste stehen Desinfektionsmittel und Mundschutzspender bereit. „Perfusorspritzen, Verschlusskappen rot, Infusionen NaCl Ringer, Monovetten grün“ ist auf den Etiketten der Schrankfächer zu lesen. „Damit man sich im Akutfall schnell zurechtfindet“, erklärt Assistenzärztin Dominique Sauter. Knapp unter der Decke des Stationszimmers thront ein Monitor. „IVENA eHealth“ prangt dort schwarz auf orange. Interdisziplinärer Versorgungsnachweis. Meldet die Leitstelle einen Notfall, trompetet die Software ein Alarmsignal durch den Raum. Ein kurzer Blick auf dem Bildschirm und das Team weiß, welcher Fall einrücken wird. Wird der Patient von einem Notarzt begleitet? Ist er männlich oder weiblich, alt oder jung? Wird er beatmet oder gar reanimiert? Mit etwas Vorwarnzeit kann sich die CPU rüsten. 

Ist der Patient eingetroffen und besteht der Verdacht auf ein akutes Koronarsyndrom, spulen Pfleger und Ärzte die eingespielte Abfolge lebensrettender Schritte ab. Patient befragen, Elektroden aufkleben, Monitorüberwachung anschließen, EKG schreiben, Blutzucker messen, Medikamente verabreichen, Blut abnehmen. Knappe Anweisungen flirren durch den Raum. Defibrillator und Intubationssets liegen bereit. Bis zu neun Leute agieren zeitgleich Hand in Hand, zügig, ohne jedoch in Hektik zu verfallen. „Wer mit akutem Infarkt zu uns kommt, hat Todesangst und wahnsinnige Schmerzen“, sagt Stationsleiterin Daniela Pfeuffer. „Ständig pfeift und hupt hier irgendetwas, es ist laut, alles neu – das verunsichert natürlich. Da ist es wichtig, gegenüber dem Patienten Ruhe auszustrahlen.“

Manfred Hardenbeck (Name von der Redaktion geändert) kennt die Situation zu gut. Mit Zugängen in beiden Händen liegt der 78-Jährige in Bett 4 der CPU. Heute Morgen kam er als Notfall in die Klinik. Seinen ersten Infarkt hatte er mit 39, darauf folgten drei weitere. „Ich habe einen plötzlichen Druck auf der Brust gespürt und hatte starke Schmerzen im linken Arm. Aber ich konnte die Beschwerden nicht so richtig zuordnen.“ Was ist das? Woher kommt das? Muss ich das ernst nehmen? Mit diesen Fragen quält sich Hardenbeck beim ersten Mal eine ganze Weile herum, bis er seinen Hausarzt um Rat fragt und sich in die Notaufnahme schicken lässt. „Man will ja nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt rennen und wartet lieber noch ein bisschen ab“, sagt er und lacht. „Inzwischen kenne ich die Symptome aber gut.“ Er zählt auf: plötzlich einsetzende, länger anhaltende Schmerzen hinter dem Brustbein und auf der linken Brustseite. Kalter Schweiß, ein Engegefühl in der Brust. Schmerzen im Hals, Kiefer, Rücken, Oberbauch oder den Armen. Übelkeit, Atemnot, Unruhe und Angst. 

Doch nicht immer sind die Anzeichen so eindeutig wie bei Manfred Hardenbeck. Besonders Frauen und ältere Patienten leiden häufig an diffuseren Symptomen, an einem Schwächegefühl, an Magenproblemen, Schlafstörungen oder Erschöpfung. Manche Betroffene wiederum verspüren überhaupt keine offensichtlichen Beschwerden. Studien legen nahe, dass nicht wenige Herzinfarkte  komplett „stumm“ ablaufen. Auch deshalb stirbt fast ein Viertel aller Erkrankten  schon, bevor es eine Notaufnahme erreicht. Die meiste Zeit geht bei einem Herzinfarkt aber verloren, weil Betroffene zögern, den Notruf zu wählen. Nach Erhebungen des Instituts für Herzinfarktforschung (IHF) in Ludwigshafen verstreichen untertags im Durchschnitt 2,5 Stunden, bis ein Patient die Klinik erreicht. Nachts sind es sogar fast vier Stunden . „Das Bewusstsein in der Bevölkerung hat sich zwar erhöht“, sagt Oberarzt Michael Joner, „aber den Patiententyp, der die Sache nicht ernst nimmt, lieber zuhause bleibt und hofft, dass die Beschwerden von alleine wieder vergehen, den gibt es leider immer noch.“

Gut, wenn solche Charaktere beherzte Partnerinnen und Partner an ihrer Seite haben. Wie Herzinfarktpatient Ulrich Schön (Name von der Redaktion geändert). „Ich wurde abends ungewöhnlich früh müde. Nachts bin ich dann aufge-wacht, weil ich extrem starke Schmerzen in der Brust, im Rücken und dem Bauch hatte.“ Schön weckt seine Frau – die fackelt nicht lange. „Ich wollte lieber noch abwarten. Aber meine Frau hat darauf bestanden, mich sofort in die Notaufnahme zu fahren.“ Seine Augen suchen Halt an einem Punkt an der Wand. „Damit hat sie vielleicht mein Leben gerettet.“ 

In der Klinik angekommen, durchläuft Ulrich Schön das klassische Diagnoseprogramm. „Der erste Blick geht immer auf das Elektrokardiogramm, das EKG“, erklärt Ärztin Dominique Sauter das Prozedere. Das Gerät zeichnet die Herzströme auf, die Sauter anschließend auf Anzeichen eines Herzinfarktes hin analysiert. Gibt es typische Veränderungen der elektrischen Spannungen am Herzen? Ist die T-Welle überhöht? Gibt es eine ST-Strecken-Hebung? Der zweite Blick gilt dann den sogenannten Infarktmarkern im Blut, etwa Troponin, Creatinkinase oder Glykogenphosphorylase BB. „Bei einem Herzinfarkt werden bestimmte Eiweiße freigesetzt, die in den Herzmuskelzellen enthalten sind“, sagt Sauter. „Die lassen sich einige Stunden nach dem Infarkt durch eine Blutuntersuchung im Labor identifizieren.“ Auch Myokardinfarkte, bei denen das EKG keinen Hinweis liefert, kann die Ärztin so aufspüren. Eine Ultraschalluntersuchung oder eine Magnetresonanztomografie können weitere Indizien liefern. Ist die Diagnose gesichert, wird der Patient möglichst schnell zur Herzkatheteruntersuchung gebracht. Biegsame Kunststoffschläuche werden bei diesem speziellen Röntgenverfahren über eine Schlagader von der Leiste, dem Handgelenk oder der Armbeuge aus bis in die linke Herzammer und zu den Herzkranzgefäßen vorgeschoben. Ein Kontrastmittel macht die Gefäße im Röntgenbild sichtbar und legt offen, ob und an welcher Stelle sie verengt oder verschlossen sind.

Bernhard Wolf, Assistenzarzt auf der CPU, klickt sich durch die Aufnahmen eines Patienten. Schwarze Verästelungen pulsieren auf dem Bildschirm im Takt des Herzschlags. Von großen Gefäßen zweigen immer feinere Kanäle ab und durchziehen das weiß-graue Gewebe im Röntgenbild. „Hier sieht man eine deutliche Verengung“, Wolf deutet auf eine Arterie. „Da ist zwar noch Fluss drauf, aber irgendwann kann sie komplett zugehen.“ Er klickt weiter. Eine dicke, dunkle Linie wird von einem Karomuster durchzogen. „An dieser Stelle wurde schon ein Stent eingesetzt, da ist das Gitter schön zu sehen.“ Finden sich, wie bei Ulrich Schön, Engstellen in den Herzkranzgefäßen, können diese bei örtlicher Betäubung sofort im Herzkatheterlabor aufgedehnt werden. Dafür wird ein Ballon eingeführt und aufgebläht. Droht sich das Gefäß bald wieder zu verschließen, wird zusätzlich eine Gefäßstütze implantiert – ein sogenannter Stent, eine kleine, metallische Hülse, meist aus Drahtgeflecht. 

„Es war sehr interessant, zu sehen, wie der Katheter in mein Herz wandert“, sagt Hermann Mausch (Name von der Redaktion geändert). „Gleichzeitig ist es ein blödes Gefühl, zu wissen, dass das, was du auf dem Bildschirm siehst, gerade in deinem Körper passiert.“ Wie ein blutsaugender Wurm habe die Stauung in dem Gefäß auf dem Monitor ausgesehen. „Kaum war sie behoben, wurde es viel leichter in der Brust.“ Mittlerweile 11 Stents sind in seinem Herzen verbaut. 62 Jahre war Mausch bei seinem ersten Infarkt, seitdem lässt ihm seine Pumpe keine Ruhe. Doch der 79-Jährige sieht es gelassen: „Der Herztod ist nicht der schlechteste Tod. Und sterben müssen wir eh irgendwann.“ Nach dem ersten Besuch in der CPU und nach jedem der folgenden Gastspiele dort, hat er sich entschieden, weiter zu machen wie zuvor. „Ich will ein schönes Leben. Und wenn das nicht mehr geht, dann ist eben Schluss“, sagt Mausch.

Ganz anders Manfred Hardenbeck. Vor seinem ersten Besuch in der Notaufnahme schiebt er 100 Wochenstunden in der eigenen Firma. Als ihm sein Körper Grenzen setzt, nimmt er den Warnschuss ernst und gestaltet sein Leben neu. „Als junger Mann hast du ja keine Ahnung von deinem Körper. Da weißt du mehr über Autos, als über Gesundheit. Das habe ich alles erst in der Reha gelernt“, erinnert sich der Rentner. Er gibt das Rauchen auf, bewegt sich viel, tritt beruflich kürzer, ernährt sich gesünder, trinkt weniger Alkohol. Und er läuft den Jakobsweg: 550 Kilometer bis nach Santiago de Compostela. 

Die Forschung gibt ihm Recht. Was nach einem Herzinfarkt gilt, kann auch gesunde Menschen vor einem Aufenthalt in der CPU bewahren. Denn neben Risikofaktoren, die wir nicht beeinflussen können – wie eine erbliche Belastung, zunehmendes Alter, das männliche Geschlecht –, sind vor allem eine ungesunde Gewohnheiten schuld. „Lebensstil schlägt Genetik“, sagt der Kardiologe Prof. Axel Schlitt, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauferkrankungen, und meint damit die ewigen Klassiker der Präventivmedizin: Rauchen, Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Stress, Diabetes, Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel. Fast 90 % aller Herzinfarkte  sind auf diese Faktoren zurückzuführen, wie eine umfangreiche Studie in 52 Ländern zeigte.

Ist das also der typische Patient? Männlich, Anfang 70, Wurstfan, Sportmuffel, Biertrinker? „Nein“, sagt Michael Joner. „Den klassischen Herzinfarktpatienten gibt es nicht mehr. Wohl aber die klassischen Risikofaktoren.“ Vermehrt landeten Frauen und jüngere Menschen in seiner Abteilung. Und auch der sportliche, nichtrauchende Vegetarier, für den es überhaupt keine Erklärung gibt. Die Forschung zielt deshalb auf Verfahren ab, mit denen potentielle Patienten künftig identifiziert werden sollen, bevor es zum Notfall kommt. „Infarkte präventiv zu verhindern, das ist eine der großen Herausforderung der Zukunft“, erklärt Joner. „Da spielen vor allem bildgebende Verfahren eine große Rolle: CT, Kernspint, invasive Herzkatether.“

Und in eine weitere Richtung stößt die präventive Kardiologie vor. Setzte sie bislang vor allem auf eine Veränderung des Lebensstils und die Senkung des Cholesterinspiegels, ist künftig auch eine antientzündliche Therapie denkbar, um das Infarktrisiko zu verringern. In einer aktuellen Studie reduzierte der Antikörper Canakinumab das Risiko bei gefährdeten Patienten um 15 Prozent. „Eine echte Sensation“, wie Schlitt meint. „Allerdings bleibt abzuwarten, was diese Erkenntnis im Alltag bringt. Der Preis der Antikörpertherapie wird die Anwendung bremsen, das ist nichts für die Breite.“

Die wird weiterhin auf der Chest Pain Unit des Deutschen Herzzentrums landen. Dort, wo sich ein Geräuschteppich aus piependen Monitoren, klappernden Tastaturen und beratschlagenden Ärzten über den Stationsraum breitet. Wo Ablagen wie „Aufnahme“, „Belast. EKG“, „Befunde“ auf Patientendaten warten. Wo eine Kamera monochrome Livebilder aus den Patientenzimmern liefert. Stationsleiterin Daniela Pfeuffer wirft einen Blick auf den Bildschirm. Alles ruhig. „Man hofft, dass man nie selbst dort liegen wird“, sagt sie und steckt einen EKG-Ausdruck in die Patientenakte.



"AUCH EIN FRAUENPROBLEM"

 

Im Laufe ihres Lebens haben Männer und Frauen etwa das gleiche Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden. Trotzdem kommt es bei Frauen häufiger vor, dass sie zu spät oder falsch behandelt werden. Warum?

 

Herzerkrankungen gelten nach wie vor als Männerproblem. Frauen erkennen häufig nicht, dass sie einen Herzinfarkt haben, und kommen deshalb in der Regel später ins Krankenhaus als Männer. Und auch die behandelnden Ärzte rechnen nicht immer mit einem Infarkt. Vor allem die besonders jungen und die besonders alten Frauen erhalten im Notfall oft nicht schnell genug die notwendige Behandlung. Wenn Männer über Brustschmerzen klagen, wird sofort die Diagnose Herzinfarkt abgeklärt. Bei Frauen ist das nicht unbedingt die erste Vermutung.

 

Liegt das auch daran, dass sich ein Herzinfarkt bei Männern und Frauen unterschiedlich bemerkbar macht?

 

Die Unterschiede sind kleiner als man denkt. Tatsächlich ist es so, dass die so genannten stummen Herzinfarkte, die etwa ein Drittel aller Fälle ausmachen, bei Frauen etwas häufiger vorkommen als bei Männern. Ansonsten sind Schmerzen auf der linken Seite des Brustkorbs auch bei Frauen das typische Symptom. Bei ihnen kommt nur häufiger ein buntes Spektrum an Beschwerden hinzu: Schmerzen in der Schulter und im Oberbauch, Übelkeit, Schwitzen, Müdigkeit. Das verwirrt viele Ärzte.

 

Vor zehn Jahren haben Sie in einem Interview gemahnt, dass bei Frauen Komplikationen nach einem Infarkt häufiger auftreten als bei Männer. Gilt das bis heute?

 

Leider ja. Schlaganfälle und Herzinsuffizienz kommen bei Frauen nach einem Infarkt häufiger vor. Es ist schwer zu sagen, warum. Ich vermute, dass Nachsorge und Rehabilitation bei ihnen zu kurz kommen. Hausfrauen können sich nicht so einfach krankschreiben lassen. Sie übernehmen schnell wieder Familienpflichten, stemmen den Haushalt und versorgen die Kinder.

 

Ältere Männer gelten als größte Risikogruppe. Doch die Frauen holen auf. Wie kommt es, dass gerade junge Frauen immer öfter mit einem Herzinfarkt in der Klinik landen?

 

Sie passen sich leider dem männlichen Lebensstil an. Frauen rauchen mehr, sind öfter übergewichtig und bewegen sich weniger als noch vor einigen Jahren. Das ist besonders problematisch, weil bestimmte Risikofaktoren, zum Beispiel Rauchen und Diabetes, für Frauen noch schädlicher sind als für Männer. Und auch der Alltag spielt eine Rolle: Frauen übernehmen Aufgaben der Männer im Berufsleben, die Männer übernehmen aber nicht im gleichen Maße Verantwortung im Haushalt, in der Kinderbetreuung oder bei der Pflege der Eltern. Diese Doppelbelastung verursacht enormen Stress, der Herzerkrankungen begünstigt.

 

Sie kämpfen seit Jahrzehnten dafür, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Medizin beachtet werden. Hat sich im Hinblick auf Herzinfarkte etwas getan?

 

Ja, es gibt deutliche Fortschritte. In Deutschland hat sich die Behandlung von Frauen und Männern angeglichen. Und auch die Sterblichkeitsrate von Frauen ist nicht mehr höher als die der Männer. Trotzdem gibt es immer noch Verbesserungsbedarf. Zum Beispiel sind die Nebenwirkungen von Arzneimitteln bei Frauen schwerer und häufiger, weil nicht alle Ärzte die Dosis an das Körpergewicht anpassen. Insgesamt ist die Sensibilität in der Kardiologie aber zum Glück stark gewachsen.

 

Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek ist Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) und Vorstandsmitglied des Cardiovascular Research Center (CCR) an der Charité Berlin. Sie gilt als Vorreiterin der Gendermedizin in Deutschland.