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David gegen Goliath: Gute Recherche im Gefahrengebiet

Wie das kleine Onlinemedium "Mittendrin" den Großen zeigte, wie man es besser macht.
  
Von Lisa-Marie Eckardt

„Im Budni an der Heyn-Hoyer-Straße sind #Klobuerste n ausverkauft", twittert das Hamburger Onlinemagazin „ Mittendrin " Anfang Januar. Das ist keine Nachricht über eine Massenverstopfung in Hamburgs Toiletten. Die Klobürsten sind Zeichen des Widerstands. Gegen die willkürlichen Personenkontrollen im sogenannten Gefahrengebiet, das die Hamburger Polizei in St. Pauli und umliegenden Stadtteilen eingerichtet hat. Aus Protest strecken hunderte Menschen ihre Bürsten in den Himmel. Tage lang sorgt das umstrittene Gefahrengebiet national und international für Aufmerksamkeit. Ganz nah dran sind die Nachwuchsjournalisten aus der Redaktion von Isabella David. Es ist ihr erster großer Erfolg: Während die etablierten Hamburger Lokalmedien auf eine fehlerhafte Polizeimeldung hereinfallen, bleibt "Mittendrin" kritisch.

"Wir schießen nächstes Mal scharf", titelt die Hamburger Morgenpost kurz vor Silvester. Vermummte Demonstranten hätten Polizisten vor der Davidwache an der Reeperbahn angegriffen. Einzige Quelle für den Bericht ist die Polizei. Wegen des Vorfalls errichten die Beamten bald darauf das Gefahrengebiet, dürfen darin jeden ohne Anlass kontrollieren und durchsuchen. Später räumt die Polizei ein: Den Angriff hat es so nie gegeben. Fast alle regionalen Medien hatten die Pressemitteilung unkritisch übernommen. Nur das kleine "Mittendrin" nicht.

Chefredakteurin Isabella David steht jetzt vor der Davidwache und guckt sich skeptisch um. Die 24-Jährige erinnert sich noch genau an den 29. Dezember 2013, der Tag an dem die Polizeimitteilung im E-Mail-Postfach der Redaktion aufschlägt. Die Redaktion, das sind zurzeit 18 junge Reporter. Die meisten von ihnen sind Studenten und haben noch keine journalistische Ausbildung. David selbst studiert hauptberuflich Politikwissenschaften. Richtige Redaktionsräume gibt es noch nicht, zur Konferenz trifft man sich meist in der Wohnung vom stellvertretenden Chefredakteur und Mitbegründer Dominik Brück. "Wir ahnten sofort, dass etwas nicht stimmt", sagt David.

Brück, der die Meldung als erster liest, fällt auf: "Ein Angriff auf eine Polizeistation am Samstagabend, mitten auf der gut besuchten Reeperbahn - und es gibt kein einziges Video auf YouTube und auch keine Beiträge auf Twitter, wo doch heute jeder sofort das Handy zückt?" Das Duo entscheidet: "Wir bringen das nicht."

Näher dran mit Twitter und „Call A Journalist"

Stattdessen gehen sie raus ins Gefahrengebiet, wollen nur das berichten, was sie selbst sehen oder aus mehreren unabhängigen Quellen erfahren. Mindestens zwei „Mittendrin"-Reporter sind täglich im Gefahrengebiet unterwegs. Sie sprechen mit Polizisten, Anwohnern und Demonstranten. Twittern live über Kontrollen und Proteste, machen Fotos und Videos. Zudem nutzen sie die neue App „Call A Journalist": Per Knopfdruck können ihre Leser die Journalisten direkt dorthin rufen, wo etwas passiert. Die Anwendung wurde von befreundeten Programmierern extra für sie entwickelt. Im Gefahrengebiet kommt sie fünf Mal zum Einsatz. Während die etablierten Lokalmedien wegen ihrer Nähe zur Polizei zunehmend in die Kritik geraten, fällt das kleine Onlinemagazin durch Unbefangenheit auf. „Wir wollen näher dran sein", sagt die junge Chefredakteurin, „statt Schreibtischjournalismus zu betreiben und Pressemitteilungen zu veröffentlichen." Die Berichterstattung der großen Hamburger Medien nennt David „unverantwortlich".

Der Frust über die Hamburger Lokalmedien hatte die beiden Gründer erst auf die Idee gebracht, ihre eigene Nachrichtenseite ins Netz zu stellen. „Wir haben uns immer geärgert, wenn wir die Zeitung lasen oder Radio hörten", sagt David. Über ihren Stadtteil Billstedt wurde entweder kaum berichtet oder immer nur über dieselben Klischees vom Problemviertel. Im Herbst 2012 gehen David und Brück mit dem Projekt online. Kein gewöhnlicher Blog, es soll ein hyperlokales Nachrichtenmagazin sein für den Bezirk Hamburg-Mitte. Dass die großen Medien zu lokalen Themen "dpa-Meldungen" drucken, ist den Hyperlokalen völlig unverständlich. „Geht doch vor die Tür!", sagt David. „Wenn ich eine lokale Identität haben will, dann muss ich da raus gehen. Auch wenn es kalt ist und regnet und hagelt."

Solidarität zahlt sich aus

Die Leser wissen es offenbar zu schätzen und besuchen die Seite immer öfter. Vor dem Gefahrengebiet hatte Mittendrin laut David im Schnitt 150.000 bis 200.000 Seitenzugriffe. Im Januar seien es bereits 600.000 gewesen noch bevor die Hälfte des Monats rum war. Seitdem würden noch mehr Leser das Projekt finanziell mit freiwilligen Beiträgen unterstützen, sagt David. „Inzwischen kann ich auch schon kleine Honorare zahlen. Davon kann aber keiner leben." Solidarität gibt es zudem von der taz. Gegen Honorar übernimmt der Kooperationspartner einzelne Artikel der Mittendrin-Reporter.

Noch sind sie die Kleinen. Doch sie füllen eine Lücke, die die Großen noch nicht schließen können. "Solche jungen kreativen Portale zeigen, wie sich Lokaljournalismus in digitalen Medien übersetzen lässt", sagt Stefan Endter, Geschäftsführer vom DJV Hamburg. Gerade wenn es um die Zukunft der Tageszeitungen gehe, verdeutlichten Beispiele wie "Mittendrin", wie wichtig es für die Verlage sei, sich mit ihren Angeboten entsprechend zu positionieren.

David sieht jetzt eine große Chance, ihr Projekt langfristig zu etablieren. Mit weiteren Einnahmen will sie ihren Reportern höhere Honorare zahlen und, so hofft sie, die Ressortleiter irgendwann festanstellen. Bald startet „Mittendrin" eine Crowdfunding-Aktion für ein erstes Büro. Im April wollen sie einziehen. Aber auch dann wollen die jungen Journalisten ihre Zeit nicht nur hinterm Schreibtisch verbringen, sondern immer dort sein, wo etwas los ist.


 
Hyperlokale Nachrichtenblogs

Seit einigen Jahren entstehen im Netz immer mehr lokale oder hyperlokale Nachrichtenblogs. Neben „ Mittendrin" gibt es in Hamburg noch die „ Eimsbütteler Nachrichten", „ Altona Info" und „ WilhelmsburgOnline". Der bekannteste Blog in Berlin heißt „ Prenzlauer Berg Nachrichten". In Köln „ Meine Südstadt ". Sie berichten von einem eng begrenzten Raum, wie zum Beispiel einem Stadtteil. Dabei greifen sie Themen auf, die aus der Perspektive anderer Medien als zu unbedeutend erscheinen, im nachbarschaftlichen Umfeld aber wichtig sind.

Oft betreiben ausgebildete Journalisten solche Seiten als Hobby oder als Geschäftsmodell. Eine eigene Website über einen Bloganbieter (wie etwa WordPress, Tumblr oder Blogger.com) einzurichten, ist selbst für technisch wenig begabte Journalisten inzwischen relativ einfach. Schwieriger gestaltet sich meistens die finanzielle Aufstellung.

Ob die hyperlokalen Nachrichtenblogs den traditionellen Lokaljournalismus langfristig ablösen können, bleibt fraglich. Oft sind ihre Redaktionen zu klein, um die Berichterstattung vollständig abdecken zu können. Für die großen Verlage hingegen ist der Aufwand zu groß, Reporter für einzelne Stadtteile einzusetzen. In den USA, wo der Trend entstanden ist, hat die New York Times ihre hyperlokalen Projekte nach drei Jahren wieder beendet.

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