Viele Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind täglich auf TikTok, Instagram und YouTube unterwegs - digitale Räume, in denen sie meist selbst urteilen müssen, ob sie es mit Fake News zu tun haben oder mit verlässlichen Informationen. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht sieht Nachholbedarf bei der Medienkompetenz hierzulande und will daher mit einem Demokratiefördergesetz unter anderem bei der Jugend das Bewusstsein für einen kritischen Umgang mit Informationen im Internet stärken. Schon heute gibt es Initiativen, die sich genau das zum Ziel gesetzt haben. Das Projekt Lie Detectors etwa schickt seit 2015 europaweit Journalistinnen und Journalisten in Schulen, die den Jugendlichen erklären sollen, wie sie Desinformationen erkennen, Propaganda entlarven und sich in sozialen Medien kritisch und reflektiert bewegen können. Im Interview erklärt dessen Gründerin und Leiterin Juliane von Reppert-Bismarck, was sie von dem Entwurf des Demokratiefördergesetzes hält und was junge Menschen im Netz für Kompetenzen benötigen.
ZEIT ONLINE: Haben Sie heute schon eine Lüge entdeckt?
Juliane von Reppert-Bismarck: Ja! Es gibt ein YouTube-Video, da sind Löwen in Moskau zu sehen, wie sie nachts durch die Straßen laufen. Russlands Präsident Wladimir Putin soll sie ausgesetzt haben, um die Ausgangssperre während Corona durchzusetzen. Das Video sieht aus, als hätte es der amerikanische Nachrichtensender CNN gedreht. Es erscheint vertrauenswürdig. Wenn man aber genauer hinschaut, sieht man, dass das Video eine unbestätigte Straße in den Tropen zeigt.
ZEIT ONLINE: Wo begegnen Schülerinnen und Schülern heute solchen Videos?
von Reppert-Bismarck: Kinder bewegen sich auf ganz anderen Plattformen als wir Erwachsene. Sie sind nicht auf Facebook und Twitter. Sie sind viel in visuellen Räumen, bei YouTube, Instagram, TikTok, Switch oder Snapchat. Es muss einem bewusst sein, dass sich diese jungen Menschen dort allein informieren. Das sind Orte, die nicht mit Faktenchecks und einer Moderation ausgestattet sind. Und keiner kann wirklich einsehen, was da läuft.
ZEIT ONLINE: Was muss sich ändern, damit sich junge Menschen in digitalen Räumen selbstbestimmt und reflektiert bewegen?
von Reppert-Bismarck: Das Defizit liegt im Bildungssystem. In der Schule liegen die größten Möglichkeiten, junge Menschen zu erreichen. Wir plädieren dafür, strategisch vorzugehen: Die Schulen müssen kritische Medienkompetenz in ihre Curricula einbauen. Entsprechend muss das Thema auch während des Lehramtsstudiums bereits eine Rolle spielen. Auch die angehenden Lehrerinnen und Lehrer müssen den kritischen Umgang mit Medien lernen. Es geht nicht darum, Kindern zu verbieten, auf TikTok zu sein, sondern zu sehen, was sich dahinter verbirgt. Man wird Desinformation nicht ausrotten können, dafür sind die Beweggründe zu stark und mächtig, aber wir müssen damit anders umgehen können und dieses Wissen weitergeben.
ZEIT ONLINE: Wie kann Kindern Medienkompetenz beigebracht werden?
von Reppert-Bismarck: Man kann mit den leichtesten Beispielen tiefschürfend sein. Wenn wir fragen, was die Schülerinnen und Schüler beschäftigt, sind das zum Beispiel Kettenbriefe oder Witze, die Information transportieren. Sie nennen es Gemeinheit, Cybermobbing oder Clickbait. Sie sprechen nicht wie wir Erwachsenen von Desinformation und Propaganda. Aber sie wissen von YouTube, wie mit reißerischen Texten und Bildern Klicks generiert werden, wie man damit Geld verdienen kann. Sie wissen, wie Cybermobbing als Meinungsmache funktionieren kann, sie kennen diese Dynamik vom Schulhof: wie ein einziges manipuliertes Bild zum Urteil über andere Schüler wird. Diese zwei Beweggründe, die Profitgier und der Wunsch, Meinungen zu beeinflussen, sind meistens die Basis von Desinformation. Daher versuchen wir, dieses Verständnis zu wecken, damit die Kinder diese Logik auch auf die Nachrichtenwelt übertragen können. Oft können sie am Ende viel intuitiver als Erwachsene damit umgehen.
ZEIT ONLINE: Die Bundesjustizministerin will ein Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen, um Projekte finanziell zu stärken, die sich gegen Extremismus und Verschwörungstheorien einsetzen und für die Demokratie - was denken Sie darüber?
von Reppert-Bismarck: Das ist ein wichtiger Ansatz. Deutschland kann als OECD-Mitglied noch weitergehen und fördern, dass kritische Medienkompetenz als grundsätzliche Lernkompetenz anerkannt wird. Jedes Kind sollte die Kompetenz erhalten, eine Quelle verifizieren und einordnen zu können. Wichtig ist aber, grundsätzlich, auch das Interesse der Lehrer und Lehrerinnen zu wecken, damit Initiativen wie unsere nachhaltig wirken.
ZEIT ONLINE: Was brauchen solche Initiativen aus Ihrer Sicht?
von Reppert-Bismarck: Sie dürfen keine Eintagsfliege bleiben, eine Finanzierung und Förderung darf nicht begrenzt werden. Messbare Resultate werden nur zu sehen sein, wenn die Demokratieförderung von Dauer ist. In Zeiten von Corona ist der ideale Augenblick, damit anzufangen.
ZEIT ONLINE: Wo hakt es aus Ihrer Sicht noch in Sachen digitaler Selbstbestimmung und Medienkompetenz?
von Reppert-Bismarck: Es ist Zeit, dass die Plattformen richtig reguliert werden. Brüssel muss sich anschauen, wie das Erwerbsmodell der Plattformen menschliche Gefühle wie Wut und Angst fördert und zu Geld macht. Und dann muss auch das Kartellamt sich der Plattformen annehmen. Es geht nicht nur darum, mehr Bildung oder Faktenchecker zu finanzieren. Es darf auch nicht den Verbrauchern alle Verantwortung überlassen werden. Aus unserer Sicht besteht eine Verbindung zwischen den immer schneller verbreiteten Verschwörungstheorien und dem Erwerbsmodell der Plattformen. Das anzugehen, wird aber dauern. In der Zwischenzeit müssen die Bürgerinnen und Bürger weitergebildet werden, damit sie sich sicher auf den Plattformen bewegen können. Heißt: Kinder und Lehrer müssen kompetenter im Umgang mit Medien werden.
ZEIT ONLINE: Zurück zum Video der Löwen in Moskau: Wie können Sie sich selbst sicher sein, dass es eine Lüge ist?
von Reppert-Bismarck: Rein technisch kann per Bilderrückwärtssuche das Bild rückverfolgt werden, dann suchen wir die Quelle und hinterfragen sie. Um die Kinder selbst zu sensibilisieren, stellen wir ihnen zum Beispiel Fragen wie: Woher kommt dieses Bild? Warum gibt es diese Meldung überhaupt? Wer könnte wen damit verunsichern wollen und zu welchem Zweck? Darüber kann man mit 10-Jährigen genauso wie mit 100-Jährigen sprechen.