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Türkei greift Infrastruktur der Nachbarregion in Nord- und Ostsyrien an

„Als wir nach den türkischen Bombenangriffen ankamen, war das ein sehr schwerer Anblick", sagt Ahin Fai Ismail. Sie arbeitet im Rettungsdienst in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien. Allein bei einem Luftangriff am 8. Oktober auf eine Polizeischule sind 29 Personen gestorben.

„Während wir unsere Arbeit machten, kreisten immer noch Kampfflugzeuge über unseren Köpfen. Wir hatten Angst", fährt die junge Frau fort. Eigentlich seien die Mitarbeitenden aus dem Rettungsdienst angehalten, sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. „Aber wenn du die Schreie von Verwundeten hörst, gibt man alles, um sie zu retten", sagt Ahin Fai Ismail.

„Man hat die Einschläge bis ins Stadtzentrum gehört. Die Stadt hat gebebt, der Lärm der Kampfflugzeuge war die ganze Zeit präsent", berichtet ein Lehrer aus der Stadt Dêrik. Noch in der Nacht wurden Menschen dazu aufgerufen, Blut zu spenden. „Um halb eins nachts bin ich zum Krankenhaus gegangen. Dort hatten sich bereits viele Menschen versammelt. Sie weinten und sind gekommen, um Blut zu spenden. Man verliert in solchen Situationen die Fassung und fragt sich, was man selbst nur tun kann." Knappe zwei Stunden seien pausenlos Verletzte zum Krankenhaus gebracht worden. Die genaue Zahl der Verletzten liegt der Berliner Zeitung nicht vor.

Militäroperation als Vergeltung

„Die Verletzen, die wir aus den Trümmern herauszogen, waren teilweise nicht wiederzuerkennen. Manchen fehlten Hände, andere hatten abgetrennte Beine, es gab Fälle von massiven inneren Blutungen, anderen ist die Schädeldecke geplatzt", berichtet der Arzt Ahmed Shechmus aus Dêrik. Die Anzahl der Verwundeten und der Schweregrad der Verletzungen hätten die Kapazitäten des lokalen Krankenhauses überstiegen. Außerdem sei das Krankenhaus in Dêrik nicht gut ausgestattet. Es fehle an moderner Technik und medizinischer Versorgungsmittel, meint der Mediziner.

Am 5. Oktober hat die Türkei eine Militäroperation gegen die autonome Region Nord- und Ostsyrien gestartet. Der Auslöser dafür war ein Anschlag auf das Innenministerium in Ankara. Die zwei Angreifer sind dabei ums Leben gekommen, zwei türkische Polizisten wurden verletzt. Die in Deutschland verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK hat sich zu diesem Angriff bekannt. Hakan Fidan, der türkische Außenminister, hat daraufhin den Verdacht geäußert, die Attentäter aus Ankara seien in Nordsyrien ausgebildet worden. Somit hat er eine Militäroperation in der benachbarten Region angekündigt.

Die Infrastruktur wurde enorm getroffen

Der Oberbefehlshaber der nordsyrischen Streitkräfte Mazloum Abdî entgegnete diesen Anschuldigungen ganz klar: Die Täter seien nicht in Nord- und Ostsyrien gewesen. Außerdem habe Nord- und Ostsyrien kein Interesse an einer Eskalation mit der Türkei. Bei den verstärkten türkischen Angriffen auf die Region Nord- und Ostsyrien sind laut Rojava Information Center insgesamt 48 Personen gestorben, hinzu kommen zahlreiche Verletzte. „Unser Corona-Krankenhaus in Dêrik wurde bombardiert. Es wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sie haben nichts vom Krankenhaus übrig gelassen", sagt der Arzt Ahmed Shechmus. Ein weiteres Corona-Krankenhaus in der westlich gelegenen Stadt Kobanê wurde ebenfalls Ziel türkischer Luftangriffe.

Inzwischen hat Präsident Recep Tayyip Erdogan die erste Phase der Militäroperation gegen die selbsternannte autonome Administration von Nord- und Ostsyrien für beendet erklärt. Ob das bedeutet, dass weitere Phasen folgen werden, bleibt offen. Doch die Zerstörung der ersten Phase wird bereits gravierende Folgen für die Region haben: Die Infrastruktur wurde enorm getroffen.

Region wurde sozioökonomisch zurückgeworfen

Neben den beiden Krankenhäusern wurden zum Beispiel ein Weizensilo in Amûde, aber auch zahlreiche Ölanlagen und Elektrizitätswerke getroffen. Lokalen Informationen zufolge seien zwei Millionen Menschen zwischenzeitlich ohne Strom gewesen. „Die Stromausfälle hindern uns auch daran, die zahlreichen Verletzten angemessen zu versorgen", warnt der Arzt Ahmed Shechmus.

Die beschädigte Stromversorgung zieht weite Kreise: Auch Wasserwerke und große Bäckereien seien laut Rojava Information Center wegen der gravierenden Schäden an den Elektrizitätswerken nicht mehr voll funktionsfähig. Außerdem waren die Ölanlagen eine wichtige Einkommensquelle der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien.

Laut Rojava Information Center stammen 76 Prozent der Einnahmen der Selbstverwaltung aus dem Ölgeschäft und werden unter anderem zur Subventionierung von Benzin, Brot und Medikamenten für die Zivilgesellschaft benötigt. Die Angriffe der Türkei hätten somit die Region sozioökonomisch zurückgeworfen. Da Syrien sich aktuell in einer Wirtschaftskrise befindet und mit starker Inflation zu kämpfen hat, könnten die Folgen der Angriffe zu einer humanitären Krise in der Region führen.

Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien

„Gerade als wir am Camp ankamen, sind drei Bomben explodiert. Das ganze Auto hat gebebt", berichtet Skukriya Ali Hussein. Sie ist Teil einer lokalen Frauenorganisation und wollte in diesem Rahmen eine Zeltstadt von Binnengeflüchteten besuchen, als auch die von türkischen Bomben getroffen wurde. „Die Kinder rannten aus ihren Zelten, ihre Augen waren so voller Angst", sagt Skukriya Ali Hussein. Die meisten der Menschen, die in der Zeltstadt leben, mussten bei vorhergegangenen Angriffen der Türkei auf Nord- und Ostsyrien ihre Heimat verlassen.

Das kurdische Volk ist weltweit das größte staatenlose Volk. Die kurdischen Gebiete erstrecken sich über vier Länder: Türkei, Syrien, Irak und Iran. In Syrien rief die kurdische Freiheitsbewegung inmitten des Arabischen Frühlings 2012 die Revolution aus. Basierend auf der Gleichstellung der Geschlechter und der verschiedenen Ethnien.

Im Laufe der Jahre wurden Räte gegründet, alle Vorsitze sind mit einer Frauen-Männer-Doppelspitze besetzt. Stück für Stück wurde die autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien aufgebaut und auch Partner der internationalen Koalition gegen den sogenannten Islamischen Staat ( IS), bei dem auch die USA, Deutschland oder die Türkei Mitglieder sind. Nach der militärischen Niederlage des IS werden die meisten dschihadistischen Terroristen bis heute in Gefängnissen und Camps in Nord- und Ostsyrien gefangen gehalten.

Viele Menschen fliehen vor den Bomben

Doch der Türkei scheint die kurdisch geprägte Autonomie im Grenzgebiet ein Dorn im Auge zu sein: Neben bewaffneten Auseinandersetzungen mit PKK-Anhängerinnen und -Anhängern attackiert die türkische Regierung auch kurdische Gebiete im Nordirak und Nord- und Ostsyrien.

Im Januar 2018 griff die Türkei in die nordsyrische Region Afrin ein. Zwei Monate später war es dem türkischen Militär gelungen, die Kontrolle über Afrin zu erlangen. 300.000 Personen sind geflüchtet, das macht etwa die Hälfte der in der Region lebenden Menschen aus. Im Oktober 2019 griff die Türkei wieder den Norden Syriens an und zwar die Regionen Serê Kaniyê und Girê Spî.

Wieder mussten zahlreiche Menschen fliehen oder wurden vertrieben, wieder wurde das Land besetzt. Im Frühling 2022 hat der türkische Staatschef Erdogan angekündigt, eine sogenannte Sicherheitszone zwischen der Türkei und Nordsyrien zu errichten. 30 Kilometer sollte diese Zone in das Landesinnere Syriens reichen. Sie würde die bereits türkisch besetzten Gebiete miteinander verbinden.

In diesem 30 Kilometer breiten Streifen möchte die türkische Regierung die lokale Bevölkerung vertreiben und die in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten ansiedeln. Bisher wurde dieses Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt. Das gesamte Gebiet der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich allerdings im Krieg niederer Intensität mit der Türkei.

Türkische Drohnenangriffe mit militärischen und zivilen Zielen sind Alltag. Jedoch in einem viel geringeren Ausmaß als die vergangenen Tage. Inzwischen hätte sich das Leben oberflächlich wieder normalisiert. Die dauerhafte Bedrohung zermürbt allerdings viele Menschen Stück für Stück. „Jeder lebt mit Angst. Unsere Kinder können nicht schlafen, Mütter haben gebrochene Herzen", sagt der Lehrer aus Dêrik und fügt hinzu: „Unsere Probleme sind nicht nur Wasser und Strom, wir wissen nicht mehr, wie wir hier leben sollen. Viele Menschen fliehen wegen dieses Bombenhagels." Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

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