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„Chaos und Angst": Die türkische Versuchung in Syrien

Die Zeichen mehren sich, dass Ankara den „Islamischen Staat" reaktivieren will, um den Mord am kurdischen Volk in Syrien voranzutreiben.

„Es gibt keine Worte, die den Kampf gegen den ,IS' beschreiben, aber ich kann sagen, dass ich die Hälfte meines Körpers geopfert habe und ich bereit bin, meine andere Hälfte zu geben, um den ,IS' zu vernichten und ein neues Leben für unsere Familien und Kinder aufzubauen", sagt Yousef.

Yousef ist 24 Jahre alt, wohnt in der nordsyrischen Stadt Heseke und sitzt im Rollstuhl. Im Kampf gegen die Milizen des „Islamischen Staates" (IS) wurde er so schwer verletzt, dass es unsicher ist, ob er jemals wieder wird laufen können. Der junge Mann wirkt trotzdem lebensfroh, doch seit Beginn der jüngsten türkischen Angriffe auf die Region der autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien gehe es ihm und seiner Familie nicht gut, klagt er. Die Wasserversorgung und die Infrastruktur seien durch die permanenten Angriffe unterbrochen, aber auch die Sorge um die Zukunft seiner Heimat beschäftigt ihn. „Die Türkei will Nordostsyrien destabilisieren, den ,IS' wiederbeleben und die ,IS'-Terroristen aus Gefängnissen und Lagern befreien", ist Yousef überzeugt.

Türkei: „Sicherheitszone" entlang der türkischen Grenze errichtet

Seit der Nacht auf den 20. November belegen die türkischen Streitkräfte Nord- und Ostsyrien flächendeckend mit Fliegergeschossen und Artilleriegranaten oder -raketen. Bereits im Frühjahr hatte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan die Errichtung einer „Sicherheitszone" auf dem Gebiet von Nordostsyrien angekündigt. Das soll ein 30 Kilometer breiter Streifen entlang der türkischen Grenze sein. Die autonome Selbstverwaltung dort ist mehrheitlich kurdisch geprägt, zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie für eine multiethnische Bevölkerungsstruktur einstehen will. Außerdem gibt es weitreichende Frauenrechte. Nichts davon erwärmt eine türkische Regierung, die bereits aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ausgetreten ist, für die nordostsyrischen Nachbarn.

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Der türkische Präsident Erdogan hält mit seiner Meinung gegenüber dem kurdischen Volk auch nie hinterm Berg: „Sie sind ein Ärgernis, das die Ruhe in den Ländern, in denen sie sich aufhalten, stört. Deshalb müssen wir weiterhin einen solidarischen Kampf gegen sie führen", sagte er zum Beispiel im Sommer während eines Besuchs in Teheran (im Osten des Iran gibt es ebenfalls kurdische Kommunen). Die Türkei hatte zu dem Zeitpunkt bereits Söldnereinheiten, viele mit einer Vergangenheit beim „IS" oder bei der Al-Nusra-Front (einem syrischen Ableger von Al-Kaida), nahe der nordsyrischen Städte Kobanê oder Minbich stationiert. Da schien Erdogan aber noch kein grünes Licht für eine Invasion oder Luftangriffe von Russland oder den USA erhalten zu haben. Die beiden Großmächte teilen sich die Hoheit über den Luftraum von Nord- und Ostsyrien.

Türkei: Angriffe zielen auf Infrastruktur und Zivilgesellschaft

Inzwischen sieht es anders aus: Die aktuellen türkischen Angriffe zielen besonders auf Infrastruktur und die Zivilgesellschaft, allerdings auch auf „IS"-Gefängnisse und -Lager. Die bewaffneten Kräfte der autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien haben eine zentrale Rolle im Kampf gegen den „IS" geführt. Als Teil der internationalen Koalition gegen den „Islamischen Staat" hatten sie die Hauptlast der Bodenkämpfe getragen und mussten große Verluste verzeichnen: Etwa 11.000 Menschen kamen ums Leben, 20.000 und mehr wurden versehrt oder verletzt. Einer von ihnen ist Yousef aus Heseke.

Die „IS"-Angehörigen werden seit der militärischen Zerschlagung ihrer Bewegung in Gefängnissen festgehalten, Familienmitglieder leben in Lagern. Al Hol ist eines dieser Camps und liegt etwa 45 Kilometer von Heseke entfernt. Mehr als 50 000 Menschen leben dort. In der Presse wird das Camp oft als eine „tickende Zeitbombe" beschrieben, da viele der dortigen Frauen die „IS"-Ideologie an ihre Kinder weitergäben. Auch ist die Rede davon, dass sich der „IS" unter den Augen seiner Bewacher:innen zu reorganisieren beginne.

Türkei: „Mit den Angriffen hat sich Chaos und Angst breitgemacht"

Am 23. November, also am dritten Tag der türkischen Angriffe, wurde auch das Wachpersonal von Al Hol zum Ziel. Acht Sicherheitskräfte starben bei insgesamt vier Luftschlägen. „Mit den Angriffen hat sich Chaos und Angst breitgemacht. Einige Insassen haben dies genutzt und sind aus dem Camp geflohen", sagt Cîhan, die zur Campleitung gehört. „Während die Sicherheitskräfte außerhalb des Camps beschäftigt waren, kam es zeitgleich innerhalb des Camps zu Unruhen der ,IS'-Anhängerinnen." Sie mache sich seit der Angriffe auf das Lager viele Gedanken: Warum greift die Türkei 80 Kilometer im Landesinneren an, obwohl ursprünglich von einem 30-Kilometer-Streifen die Rede war? Was bedeutet das für die Sicherheit ihrer Familie? Und was hätte bei den Angriffen auf Al Hol im schlimmsten Fall passieren können?

„Um das Camp herum ist eine große Brache, über die die ,IS'-Frauen hätten fliehen können. Wären alle auf einmal geflohen, hätte niemand sie aufhalten können", sagt Cîhan. Wäre das gelungen, hätte das ihrer Meinung nach zu einem Wiedererstarken des „Islamischen Staats" geführt. Schon jetzt nach dem kleineren Ausbruch habe sie stets ein flaues Gefühl, zum Camp zu fahren. Auch außerhalb würden sich nun „IS"-Anhänger:innen aufhalten. Außerdem brauche es nicht mal zwingend eine Bombardierung, um die Sicherheitslage noch mehr zu gefährden: Zwei Tage nach den Angriffen kreisten türkische Kampfflugzeuge über Al Hol. Das Wachpersonal musste sich in Sicherheit bringen, so seien wieder mehrere „IS"-Frauen und Kinder ausgebrochen.

Türkei: „Sind wir gezwungen, uns dieser türkischen Aggression zu stellen"

Auch Gefängnisse, in denen „IS"-Kämpfer inhaftiert sind, und ein Stützpunkt eines Sonderkommandos gegen den „IS" seien Ziele der türkischen Angriffe geworden. Ferhat Abdi Sahin, Generalkommandeur der nordsyrischen Kräfte, sagte, dass die Bekämpfung von „IS"-Schläferzellen vorerst ausgesetzt werden müsse: „Derzeit sind wir gezwungen, uns dieser türkischen Aggression zu stellen."

„Wird militärischer Druck auf die Strukturen der Selbstverwaltung ausgeübt, schwächt es deren Kapazität, sich gegen den ,IS' zu behaupten", sagt Axel Gehring, Forscher am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Und beantwortet so die Frage, ob die Türkei und der „IS" zusammenarbeiten. Gehring fügt noch hinzu: „Das reicht bereits. Die türkische Führung weiß das nämlich."

Für die Menschen in der Region würde die Rückkehr des „IS"-Terrors eine Katastrophe bedeuten. Unter den Dschihadisten herrschte grausame Gewalt. Der Veteran Yousef muss jeden Tag mit den Folgen des Krieges leben. Er sagt: „Wir haben der ganzen Welt geholfen, die gefährlichste Terrororganisation der Welt loszuwerden, und jetzt sieht die Welt untätig zu und drückt höchstens ihre Besorgnis aus." (Linda Peikert)

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