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Sie schlugen den IS zurück. Nun fordern Kurden, dass die Welt ihnen gegen die Türkei zur Seite steht

Nordosten Syriens Sie schlugen den IS zurück. Nun fordern Kurden, dass die Welt ihnen gegen die Türkei zur Seite steht

Manbidsch war ein regionales Handelszentrum, jetzt wird die Ware in weißen Transportern aus der Stadt gekarrt. Fabriken und Läden schließen. Im Norden der Region formieren sich tausende Kämpfer. Sie gelten als islamistisch, viele waren noch vor wenigen Jahren Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates. Seit Wochen haben sie sich militärisch aus- und weitergebildet und stehen nun Hufen scharrend bereit, die Kurdinnen und Kurden im Nordosten Syriens anzugreifen. Sie warten nur noch auf das Los ihres Befehlshabers, des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan. Der möchte nämlich eine 30 Kilometer breite "Sicherheitszone" im syrischen Grenzgebiet zur Türkei errichten. Die dort wohnenden Kurdinnen und Kurden sollen aus der Region vertrieben werden, die in der Türkei lebenden Geflüchteten will Erdoğan aus dem Land schaffen und dort ansiedeln. Wegen der Wirtschaftskrise wächst der Unmut in der türkischen Bevölkerung, auch gegenüber den Geflüchteten. Der türkische Präsident weiß das. Im kommenden Sommer sind Wahlen in der Türkei.

Während die Welt also auf die Ukraine blickt, alles für den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden getan wird, entsteht ein blinder Fleck im Nahen Osten. Denn die Angriffe stehen nicht nur bevor, sie haben bereits begonnen. Seit Wochen attackiert die Türkei mit Artillerie-Beschuss und Drohnenangriffen die in der Region lebende Bevölkerung. Zeltstädte und Flüchtlingscamps werden immer wieder attackiert, Felder und Nutztiere beschossen.

Kurdin: IS und Türkei sind beides unsere Feinde

"Wir hören in letzter Zeit viel von türkischen Angriffen, und das beunruhigt uns sehr, weil wir schreckliche Erfahrungen im Krieg gegen den IS und während der türkischen Angriffe auf kurdische Gebiete wie Afrin gemacht haben", sagt Berfîn. Sie ist 30 Jahre alt und arbeitet als Englischlehrerin im Nordosten Syriens. Ihr richtiger Name soll nicht genannt werden, sie hat Angst vor den Konsequenzen im Falle einer türkischen Besatzung.

Afrin liegt im Nordwesten Syriens, wurde 2018 von Erdoğans Armee attackiert und ist bis heute unter türkischer Kontrolle. Viele Einwohnerinnen und Einwohner wurden vertrieben, andere leben dort unter Einschränkungen und Schikanen. Berfîn hat Angst durch eine türkische Invasion in ihrer Heimat ihren Job zu verlieren, ihr Haus verlassen zu müssen. "Für uns unterscheidet sich die Besatzung durch Erdoğan nicht wesentlich von der Besetzung durch den IS. Beide sind auf ähnliche Weise Feinde der Kurdinnen und Kurden", sagt sie.

Bedran Çiya Kurd befürchtet ein erneutes Aufbäumen der Islamisten. "Die türkischen Angriffe untergraben die Bemühungen der internationalen Anti-IS-Koalition und geben dem IS die Möglichkeit, wieder zu erstarken", sagt der stellvertretender Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nordostsyrien. Wenn die Militäreinheiten der Selbstverwaltung türkische Angriffe abwehren müssten, würde ein Sicherheitsvakuum entstehen, dass der IS nutzen würde. Tausende, auch internationale IS-Kämpfer sind in der Region inhaftiert. Ihre Herkunftsländer nehmen sie oft nicht zurück. Erst im Januar gab es einen IS-Anschlag auf ein Gefängnis in der Stadt Hesêkê, bei dem IS-Kämpfer mit Autobomben die Gefängnismauern gesprengt haben, um so ihre Verbündeten zu befreien. "Wenn diese IS-Kämpfer durch eine türkische Invasion freikommen, werden sie nicht an der syrischen Grenze halt machen, sondern versuchen, nach Europa zu kommen", vermutet Bedran Çiya Kurd.

2019 hat die Militäreinheit der Selbstverwaltung in Nordostsyrien das letzte Dorf von IS-Besatzung befreit. Neben diesem Kampf steht die lokale Selbstverwaltung für mehr Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen und für ein gutes Miteinander zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen. "Wir möchten, dass alle demokratischen, menschenrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Kräfte anerkennen, was unser Volk zur Verteidigung der Welt und der demokratischen Werte getan hat, als es den IS besiegt hat. Jetzt ist es an der Zeit, uns ernsthaft zur Seite zu stehen", fordert Bedran Çiya Kurd.

Kämpfer: Wir werden einfach fallengelassen

Große Sorgen um die Sicherheit vor Ort macht sich auch Stefan. Er kommt aus Deutschland und will seinen echten Namen ebenfalls nicht im Netz lesen. "Es ist wahrscheinlich, dass der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden grünes Licht für Erdoğans Invasion bedeutet. Das erhöht unsere Gefahrenlage hier vor Ort enorm", sagt er. Aus Solidarität und ohne Bezahlung hat er sich der kurdischen Militäreinheit YPG angeschlossen.

"Auch wenn ich Teil der Verteidigungskräfte hier bin, möchte ich keinen Krieg", stellt er klar. Aber im Falle einer bevorstehenden Invasion würde er vor Ort bleiben, er möchte die Zivilgesellschaft vor den Angriffen schützen. "Ich mache mir viele Gedanken, was mit den Familien oder den Errungenschaften der Frauen hier passieren wird", sagt Stefan.

Auch er fordert mehr internationale Unterstützung für die, die der Welt vor wenigen Jahren noch den IS vom Leib gehalten haben. "Obwohl die Menschen hier sehr viel Opfer im Kampf gegen den IS gebracht haben, mehr als 11.000 Kämpferinnen und Kämpfer gefallen sind und sie damit einen großen Dienst an der Menschheit getan haben, werden sie jetzt einfach fallengelassen", sagt er aufgebracht.

Widerstand gegen Invasionspläne könnte fallen

Der türkische Präsident Erdoğan kokettiert seit Wochen mit der möglichen Invasion des Gebiets. Allerdings gab es dagegen zumindest diplomatischen Widerstand aus den USA, die 2016 noch Seite an Seite mit den Kurden gegen den IS kämpften. Für den letzten türkischen Einmarsch in dem Gebiet, im Jahr 2019, zogen die Amerikaner jedoch ihre Truppen ab und überließen Erdoğan das Feld. Damals hieß der Oberbefehlshaber allerdings noch Donald Trump. Widerstand für die türkischen Pläne gibt es aber auch aus Russland und dem Iran. Beide streben an, dass ganz Syrien wieder unter die Kontrolle von Machthaber Assad fällt.

Mit dem geplanten Nato-Beitritt Schweden und Finnlands und den entsprechenden Zugeständnissen an die Türkei steht nun jedoch zu befürchten, dass Erdoğan seine Drohungen in den nächsten Wochen in die Tat umsetzen könnte. Genau das Szenario, vor dem sich viele Kurdinnen und Kurden in der Region fürchten.

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