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Gestrandete Marokkaner*innen: Die Vergessenen der Coronakrise

Sie wollten Urlaub machen, dann kam Corona. Noch immer sitzen mehr als 20.000 Marokkaner*innen im Ausland fest. Eine von ihnen ist Souad Belkhadim.

KÖLN taz | Am Freitag, den 13. März, beginnt der Alptraum von Souad Belkhadim. Gerade ist sie dabei ihre Koffer zu packen, um von Paris zurück ins marokkanische Casablanca zu fliegen, da ruft sie ein Bekannter an: Das Königreich schließe die Grenzen, habe er gehört.

Belkhadim kann nicht glauben, dass die Regierung ohne offizielle Vorwarnung die Grenzen schließt. Trotzdem fährt sie gleich am nächsten Morgen zum Flughafen Charles de Gaulle. Doch niemand kann ihr mehr ein Ticket verkaufen. Schließlich erfährt sie von einem Mitarbeiter der staatlichen Fluggesellschaft Royal Air Maroc: Die letzte Maschine nach Marokko sei soeben abgeflogen, ab sofort seien sämtliche Flüge aus und ins Land gestrichen.

„Ich habe mich hilflos und im Stich gelassen gefühlt", erzählt Belkhadim am Telefon. Belkhadim ist 51 Jahre alt und Mutter von drei Töchtern. Sie ist eine von mehr als 20.000 Marokkaner*innen weltweit, die noch immer wegen der Coronapandemie im Ausland gestrandet sind - allein 650 waren es anfangs im Großraum Paris. Im Juni hat Marokko zwar zaghaft begonnen, seine Staatsbürger*innen zurückzuholen. Doch wann Belkhadim dran ist, weiß sie immer noch nicht. Die Grenzen des Königreichs bleiben vorerst geschlossen.

Belkhadim ist seit Mitte Februar bei ihrer ältesten Tochter in Paris zu Besuch. Yassmine bekam am 17. Februar ihr zweites Kind. Die 21-Jährige wohnt mit ihrem Mann in Saint-Germain-en-Laye, 20 Kilometer von der französischen Hauptstadt entfernt. Nach der Geburt wollte Belkhadim bei ihrer Tochter sein und vier Wochen bleiben. Es war das erste Mal, dass sie ohne ihre beiden jüngeren Töchter verreiste, die neun und 15 Jahre alt sind.

Dann erreicht das Coronavirus Marokko. Am 13. März schließt die Regierung die Grenzen - ohne Ankündigung. Zu diesem Zeitpunkt gibt es laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Marokko gerade mal sechs bestätigte Fälle, in Frankreich bereits 3.640.

Einige landeten auf der Straße

„Die meisten der Gestrandeten sind ins Ausland gereist, um ihre Familien zu besuchen, und können bei ihnen wohnen", sagt Myriem Nagi, Konsulin Marokkos in Toulouse. Für die Tourist*innen, die nun keine Bleibe mehr hätten, würden die marokkanischen Botschaften Hotelzimmer anmieten. Sie könnten aber nicht alle versorgen. So landen manche auf der Straße.

Souad Belkhadim tritt mehreren Whatsapp-Gruppen bei, über die sie nun Kontakt zu anderen marokkanischen Gestrandeten hält. Wer kann, bietet die Couch seiner Familie an, als Schlafplatz für Landsleute, die obdachlos geworden sind. „Es gibt so viele von uns", sagt Belkhadim. Es bedrückt sie zu sehen, wie vielen es in dieser Situation schlecht geht.

Belkhadim weint viel. Sie sei depressiv geworden, sagt sie. Wenn sie sich aufregt, bekommt sie Herzrasen. Das Haus verlässt sie nur noch, um zum Arzt zu gehen. Besonders belaste sie, von ihrer Familie getrennt zu sein. „Razane, meine Jüngste, ruft mich oft morgens um vier Uhr an, weil sie nicht schlafen kann. Ich fehle ihr sehr." Mindestens dreimal am Tag telefoniert Belkhadim per Videoanruf mit ihren Jüngsten und dem Ehemann.

In den vier Wochen nach dem Flughafenbesuch bewegt sie sich kaum noch. Irgendwann kann sie vor lauter Schmerzen in den Beinen nicht mehr schlafen. Morgens sind ihre Füße geschwollen. Nur mit Mühe kann ihre Tochter Yassmine sie überreden, für kurze Spaziergänge vor die Tür zu gehen

Es ist inzwischen Ende April, der heilige Fastenmonat Ramadan beginnt. Belkhadims Landsleute veröffentlichen ein Youtube-Video. Sie wollen ihre Regierung unter Druck setzen. „Bringt uns nach Hause", sagen sie. Das Video bekommt 37.000 Klicks. „Das Schlimmste ist, dass die marokkanische Regierung nicht kommuniziert hat," sagt die Aktivistin und Regierungskritikerin Karima Rhanem in einem Facebook-Live-Interview mit der Nachrichtenplattform Morocco World News.

Um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, versammeln sich Anfang Mai auf der ganzen Welt frustrierte Marokkaner*innen vor den Botschaften und Konsulaten und protestieren. Dann, ebenfalls im Mai, präsentieren die marokkanischen Botschaften Wartelisten für mögliche Rückflüge. Sie fragen ab, wer Risikopatient*in ist, wer im Rollstuhl sitzt oder keine Unterkunft hat. Sie dürfen zuerst zurück. Souad Belkhadim ist keine Risikopatientin und hat bei ihrer Tochter eine feste Bleibe. Also wird sie in den Listen weit unten stehen.

Kochen lernen per Videocall

In diesen Tagen telefoniert Belkhadim viel mit ihrer Tochter Israe. Die Mädchen sind jetzt den ganzen Tag zu Hause, Schule haben sie nur noch online. Vater Abderrahmane muss weiterarbeiten. Als Bauunternehmer gilt er als systemrelevant, weil er für staatliche Auftraggeber*innen Schulen und Rathäuser baut. Zuvor hatte sich Israe noch mit ihrem Vater beim Kochen abgewechselt. Weil er wenig Zeit hat, übernimmt die 15-Jährige nun komplett. Per Videotelefon versucht Belkhadim, ihrer Tochter marokkanische Rezepte beizubringen.

Am 9. Juni schließlich verkündet der marokkanische Außenminister Nasser Bourita, es werde eine Rückholaktion geben. Innerhalb von 48 Stunden möchte Marokko erste Gestrandete aus Spanien zurückholen. Die Regierung setzt nur wenige Flugzeuge ein, damit sie nicht zu viele Rückkehrer*innen auf einmal in Quarantäne unterbringen muss.

Zuerst bringt die Regierung 300 Marokkaner*innen in die Städte Tétouan oder Oujda. Dort müssen sie für zehn Tage, unter ärztlicher Aufsicht, in einem Hotel bleiben. Danach fahren sie mit Bussen in ihre Heimatsstädte. Die Kosten übernimmt die marokkanische Regierung. Eine Woche später beginnt das Königreich mit Charterflügen aus der Türkei.

Seitdem geht es Souad Belkhadim besser. Mittlerweile hat sie wieder Lust, etwas zu unternehmen. „Jetzt passiert etwas, das beruhigt mich", sagt sie. Bisher konnte die marokkanische Regierung rund 8.000 von insgesamt 30.000 Gestrandeten zurückholen, seit dieser Woche auch aus Frankreich. Souad Belkhadim wartet jedoch weiterhin. „Meine größte Angst ist, dass ich warten muss, bis sich die Grenzen öffnen."

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