"Man gewinnt hier ein anderes Verhältnis zur Zeit, historisch, ästhetisch, existenziell, erotisch, sogar chronometrisch."
(Foto: Andreas Vitting/Imago)Von SZ-Autorinnen und -Autoren
Landschaftskunst: Gartenreich WörlitzDas Wort Gesamtkunstwerk sagt sich so leichthin, und gleich denkt man an Wagner, Musikdrama und Bayreuth. Dabei muss man dort stillsitzen, der Körper wird stundenlang ausgeschaltet. Die Luft ist stickig. Ganz anders im wahren, einzigen Gesamtkunstwerk auf deutschem Boden, dem Wörlitzer Gartenreich, das man nur in Bewegung, gehend oder im Boot, mit allen Sinnen erfährt: herrliche, immer neue Blicke, frische Luft von Blütenduft und Wasser, Vogelgesang, und alles hat Bedeutung. Nicht nur die Sinne werden angesprochen, sondern auch der Sinn. 18 Brücken, vom steinzeitlichen Einbaum bis zum industriellen Gusseisen, zeigen den Gang der Zivilisation. Tempel, Kirche, Synagoge, die Götter und Gott, allen voran Venus, tragen den himmelblauen Überbau. Ein Pantheon erinnert an Rom, ein kleiner Vesuv an Neapel. Moderne Schriftsteller, Rousseau und Herder, haben eigene Inseln - wir wandern nämlich ins 18. Jahrhundert, ins Zeitalter von Aufklärung und Empfindsamkeit, wenn wir ins Gartenreich eintreten.
In dieser Woche feierte man dort den 250. Geburtstag des Schlosses. Dessen Eingangsfassade kennt jeder, weil das Weiße Haus in Washington, genau, diesem ersten klassizistischen Bau auf deutschem Boden nachempfunden wurde. Florian Illies hielt eine Festrede, die den mythisch-utopischen Charakter des Gartenreichs herausstellte: wilde Kulturcollage und ökologisches Mustergut in einem, Ort der Götter und der Technik, des Rausches und des Rationalismus. Illies zitierte aus dem neuen Roman von Emmanuel Maess ("Alles in allem"), der das Wörlitzgefühl erprobt: "Man gewinnt hier ein anderes Verhältnis zur Zeit, historisch, ästhetisch, existenziell, erotisch, sogar chronometrisch. Kairos statt Chronos."
Das wahre Gesamtkunstwerk Wörlitz wird nur tätig erfahren, wandernd, schauend und denkend. Man sollte immer wieder hinfahren, das tut man bei Bayreuth ja auch. Der Eintritt ist nicht limitiert, die Zeit, die man sich mindestens nehmen sollte, liegt bei zwei Wagneropern. Auch hier wird zum Raum die Zeit, der Augenblick zur Ewigkeit. Fürst Franz, der Schlossherr, legte 1773 den Grundstein zum Frühlingsbeginn: bis heute das Signal für die jährliche Zeit-Raum-Reise. Gustav Seibt
Bühne: Inklusives Theater RambazambaOben im Fenster sitzt Rosita. "Ich liebe dich von ganzem Herzen, mit ganzem Körper", sagt sie dem jungen Mann unten im Hof. Sie sagt es so innig, wie sie es fühlt, und sie wird dieses Gefühl über Jahre und Jahrzehnte beibehalten, wenn der Geliebte schon längst fort ist, auf einem anderen Kontinent. Dass er trotz Heiratsversprechen nie zurückkehren wird, dürfte Rosita klar sein, und doch verharrt sie wartend, bleibt ihrer Liebe treu. Romantisch ist das nicht. Federico García Lorca hat sein Stück "Doña Rosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen", angesiedelt in Granada um 1900, er hat es gegen den "spanischen Kitsch und die Heuchelei" geschrieben, auch als Anklage gegen die Stellung der Frau und die verordnete Sittlichkeit. Es ist ein Drama der Erstarrung.
Am inklusiven Berliner Theater Rambazamba spielt Nele Winkler die Rosita, die 1982 mit einem Downsyndrom geborene Tochter von Angela Winkler. Sie gehört seit 1996 zum Ensemble. Sie verleiht ihrer Figur so viel Entschlossenheit, Empfindung und Ernst, dass diese Rosita in all ihrer Befremdlichkeit eine eigenwillige Kraft ausstrahlt. Da ist keine Opferhaltung. Wenn sie sagt, "ich will meine Illusionen nicht verlieren", klingt das sehr selbstbestimmt. Die Regisseurin Gisela Höhne, Gründerin und bis 2017 Leiterin des Rambazamba-Theaters, hat das Stück für und wegen Nele Winkler ausgewählt und mit feinem spanischen Flair inszeniert: als eine Art Haushofdrama von Frauen, zehn an der Zahl, die mehr oder weniger alle ohne Männer auskommen (könnten), jedoch ständig von ihnen reden und auf sie fixiert sind. Zwei wirken in ihrem zünftigen Schlagabtausch wie ein Ehepaar: Rositas Tante, gespielt - als Gast - von Margarita Broich (bekannt aus dem Frankfurter Tatort), und die energische Haushälterin, hingefegt vom Rambazamba-Publikumsliebling Eva Fuchs. Spanische Livemusik, laszive Tänze, Naturprojektionen, ein Schauspieler mit Stierkopfmaske - Höhn gelingen atmosphärisch stimmungsvolle Bilder. Leider pausiert das Stück jetzt bis Juni. Dafür läuft am Rambazamba gerade wieder Leander Haußmanns hinreißende Inszenierung "Einer flog über das Kuckucksnest" nach dem Film von Miloš Forman. Die hätte unbedingt zum Berliner Theatertreffen gehört. Christine Dössel
Film: Sandrine KiberlainWas eine großartige Schauspielerin ausmacht, kann man nicht definieren. Sandrine Kiberlain jedenfalls ist am besten, wenn sie einer Figur ihren persönlichen Stempel aufdrückt. In Emmanuel Mourets "Tagebuch einer Pariser Affäre" hat sie als Charlotte einen verheirateten Mann getroffen, mit dem sie nun eine Liaison eingeht. Die soll gefälligst nicht ins Emotionale hinüberschwappen, und gelegentlich haut Charlotte mit Unschuldsmiene unsagbare Sätze heraus. So ähnlich hat sie das schon in "Rien sur Robert" gemacht, oder als "Mademoiselle Chambon" (2009): entwaffnend offen, hinreißend albern. Im "Tagebuch" überrumpelt sie ihren neuen Lover gleich beim ersten Date mit ihrem Plan, jetzt gleich mit ihm ins Bett zu gehen und ihn niemals zu lieben. Das geht natürlich schief. Aber im Bett mit einem Plastik-Dino in der Hand auftauchen und dennoch erotisch wirken: Chapeau. Susan Vahabzadeh
Klassik: Offenbachs CelloduosDass der Komponist Jacques Offenbach seine einzigartige Karriere als Cellist begann, ist angesichts seiner weltberühmten Operetten in den Hintergrund geraten. Aber heutige Cellisten haben wenigstens im Studio den Komponisten von amüsanter Cellomusik wiederentdeckt. Auch hier ist Offenbach ein Könner des instrumentalen Witzes und rhythmischen Schwungs. Neben Konzerten, Cello-Kammermusik mit Klavier und Salonstücken hat er fast vierzig Duos für zwei Celli geschrieben. Neben Übungsstücken für Schüler gibt es konzertante und brillante Duos, die wirkliche Virtuosen verlangen. Der Celloimprovisator Giovanni Sollima und der exzellente Cellist Andrea Noferini haben sich die Zeit genommen, alle Offenbach-Duos für Brillant Classics einzuspielen. Da kann man sich an Offenbachs Celloeinfallsreichtum in alle Richtungen laben. Harald Eggebrecht
Pop: Der Rapper Ski AgguEin Rapper in Sakko, Shorts und verspiegelter Skibrille möchte Bundeskanzler werden. Zumindest geht Ski Aggu im Herbst auf "Wahlkampftour", so der Titel seiner geplanten Tour. Auf dem Wahlprogramm stünde das Comeback der Nullerjahre, inklusive Vokuhila-Frisur und Ed-Hardy-Glitzer auf dem Shirt. Und auch musikalisch spielt der Rapper mit Millennial-Nostalgie-Gefühlen. In "Party Sahne" zitiert er die Melodie des 2000er-Hits "Jerk it Out", in "Hubba Bubba" besingt er knallbunte Kaugummis. Man fühlt sich, sofern selbst einer Hubba-Bubba-Jugend entwachsen, sofort in bessere Zeiten versetzt, mit wilden Partys und Abhängen mit den Atzen, mit fetzigen Techno- und Trance-Sounds und schlagfertigen Wortwitzen - kurz: Man fühlt sich so jung, wie man vermutlich nie gewesen ist. "War nie an der Börse, aber ich war früher broker", rappt Ski Aggu. Und schon sehnt man sich danach, endlich mal wieder so richtig schön pleite zu sein. Lilian Köhler