Lustenau. Simon Vetter ist etwas aufgelöst. "Was ist?", fragt jemand, als Simon am frühen Abend durch den rechteckigen, mit Schotter gefüllten Hof seiner Landwirtschaft eilt. "Es ist was Deppertes passiert", sagt Simon. Nach wenigen Minuten ist er wieder aufgebrochen und unterwegs. Was ist vorgefallen? Bei einem Traktor ist der Dichtungsring eines Ölfilters gerissen. Jetzt steht Simons Bruder Raphael mit der ramponierten Maschine auf der Bundesstraße und wartet auf die Ersatzteile. "Das war ein Mordstrara mit Feuerwehr und Polizei", wird Simon am nächsten Tag erzählen. Als Simon beim Traktor angekommen ist, wird es noch schlimmer: Ein kräftiges Gewitter zieht über Lustenau, erst beginnt es zu regen, dann zu hageln.
Der 33-jährige Landwirt lehnt barfuß und mit nassem Haar in seiner Küche an der stählernen Anrichte und schnauft erst einmal durch. Der Traktor ist wieder fahrtüchtig und am Hof angekommen, aber das wird man sich morgen wohl noch einmal ansehen müssen, so Simon.
Gastronomie, Hofladen, Wochenmarkt und Gemüsekiste
Der Vetterhof ist ein biologischer Bauernhof zwischen Lustenau und Dornbirn. Der rechteckige Hof mit der schlichten Holzverkleidung wurde in den 90er Jahren von Hubert und Annemarie Vetter, Simons Eltern, errichtet. Davor hatten sie noch einen Hof in Lustenau, als es dort aber endgültig zu verbaut und eng wurde, wagten sie den Befreiungsschlag und gründeten den Aussiedlerhof außerhalb des Ortes. Schon damals waren die Vetters Dickköpfe, die ihre Visionen durchziehen wollten. Heute baut der Hof hauptsächlich Gemüse an, eine 60-köpfige Rinderherde und acht Schweine sind die Tiere am Hof. Der Vetterhof ist unabhängig von Zwischenhändlern und vertreibt 99 Prozent seiner Produkte selbst. Das funktioniert über vier Standbeine: Die Vetters beliefern die Gastronomie, haben einen eigenen Hofladen und stehen samstags auf dem Dornbirner Wochenmarkt. Den Großteil ihrer Produkte vertreiben sie aber über die Gemüsekiste an Familien in der Gegend.
"Landwirtschaft ist immer noch extrem kapitalintensiv"
Am Morgen nach dem Wolkenbruch ist der Himmel klar. Noch liegt erst eine Ahnung der sengenden Hitze in der Luft, die sich im Laufe des Tages über das Vorarlberger Unterland legen wird. Kurz vor sieben Uhr Früh stehen Raafi und Ralph in den vor wenigen Wochen neu errichten Lagerhalle gegenüber des Hauptgebäudes des Vetterhofes. Mehrere Kühlräume, eine geräumige Arbeitshalle und ein Parkplatz für Lieferautos ergänzen seitdem den Betrieb. Raafi und Ralph sind Lastenradfahrer, als "Pedalpiraten" beliefern sie die angrenzenden Ortschaften mit den Gemüsekisten vom Vetterhof. Raafi nimmt einen letzten tiefen Zug von seinem Zigarillo, dann schließt er über dem guten Dutzend Gemüsekisten in seinem Fahrradanhänger die Plastikplane und radelt in seinem grünen Fahrraddress los nach Hard. Morgen ist dann Bregenz dran.
Kurze Zeit später ist Simon auch in der Lagerhalle angekommen. Er öffnet die schwere Sicherheitstür zu einem der Lagerräume, eiskalter Dampf steigt auf. Simon belädt das Elektroauto mit Zucchini, Salat, Kartoffeln und Karotten und macht sich auf den Weg. Dabei war vor einigen Jahren zunächst gar nicht klar, wie man das Auto bezahlen sollte. "Finanzierung ist in der Landwirtschaft ein Riesenthema, weil Landwirtschaft immer noch extrem kapitalintensiv ist", sagt Simon.
Daher hätten sie sich entschlossen, den Wagen über Crowdfunding, also ganz kleine Investments vieler Investoren, zu finanzieren. Innerhalb von zwei Tagen war das Geld beisammen. Die Mikro-Investoren erhielten ihren Anteil in Form von Gemüsekisten wieder zurück. "Es gibt mittlerweile alternative Formen zur Finanzierung, die sich perfekt ergänzen lassen mit alternativen Formen der Vermarktung. Da ist ein irres Potenzial drinnen", sagt Simon und erinnert sich zurück: "Wir haben dabei gemerkt, dass es niemanden gibt, der Dir helfen kann. Auf der Landwirtschaftskammer, bei der ich halt Mitglied bin, haben sie sich darüber gefreut, dass wir das machen, aber es gibt in ganz Österreich niemanden - keinen Juristen, keinen Steuerexperten - der sagt: ,So gehört das gemacht.' Wir haben alles selbst finanziert und mit Juristen und Steuerberatern herausgefunden."
Heute hat Simon nur eine Lieferung zu der Kantine der Vorarlberger Kraftwerke. Die direkte Vermarktung der Produkte ist für ihn essenziell: "Bis auf den Koch steht niemand zwischen uns und den Kunden, das heißt, wir sind ganz nah dran am Markt -mit all seinen Vor- und Nachteilen."
Dieser Zugang sei aber nicht nur eine Einbahnstraße, schließlich bekomme er auch einiges zurück aus dem Netzwerk - unter anderem etwas sehr Banales, aber in der Landwirtschaft Seltenes, wie Simon sagt: Zuspruch. Den bekommt er auch unmittelbar danach, als er die Kisten vor den Köchen der Kantine abliefert. "Na, wunderbar!", sagt einer der Köche mit Blick auf die frischen Zucchini. Danach macht sich Simon wieder auf den Weg zurück zum Hof.
Neben seinen Eltern arbeiten hier im Sommer auch immer einige der Geschwister, die in Wien studieren, mit: Raphael fährt den Traktor, Sebastian hilft auf dem Feld mit, und Andrea steht im Hofladen und kocht das Mittagessen. Insgesamt beläuft sich das Personal auf ein Dutzend Leute. "Wir sind die Einzigen, die ernsthaft Leute anstellen", resümiert Simon, als er wieder auf den Vorplatz des Hofes einbiegt. Und das funktioniere nicht zuletzt wegen des Verhältnisses der Verdienste von Arbeitgeber und Angestellten. "Das ist bei uns nämlich nicht eins zu sieben, nicht einmal eins zu zwei, sondern vielleicht eins zu eineinhalb."
"Cut the middleman" - das sei das Prinzip, durch den der Vetterhof nicht nur Personal einstellen könne, sondern auch unabhängiger und tragfähig geworden sei. Während ein österreichischer Landwirt durchschnittlich zu 60 Prozent von staatlichen Geldern lebt, beläuft sich das beim Vetterhof auf acht bis zehn Prozent.
Als Simon Vetter die leeren Plastikkisten wieder aus dem Auto räumt, herrscht auf dem Hof schon reger Betrieb. In der Halle sitzen der französische Praktikant Viktor und Benjamin, der Vollzeit auf dem Vetterhof beschäftigt ist, auf einem Pritschenwagen und schälen den Berg Zwiebel, der sich auf der Tragfläche auftürmt. Daneben ist Laura mit dem Minilauch beschäftigt. Die daumendicken Stiele seien streng gesehen Abfallware, erklärt Simon. "Aber ich war dann mal beim Metro und hab’ mir angeschaut, was so Minigemüse kostet - war gar nicht schlecht", sagt er und lacht. Jetzt liefern sie das schmal geratene Gemüse an einen Spitzengastronomen.
"Wer denkt, er kann 30 Jahre dasselbe machen, ist verloren"
Neben dem emsigen Treiben schreitet Simons Vater immer wieder den Hof ab. Hubert Vetter hat sich großteils aus der klassischen Hofarbeit zurückgezogen, ab und zu liefert er noch Gemüse oder Fleisch zum Markt oder an Restaurants. In schwarzen Hausschlapfen und kurzer Hose lehnt er am Eingang der Lagerhalle und erzählt, wie alles angefangen hat. 1995 begannen die Arbeiten an dem neuen Hof außerhalb Lustenaus. Auch Hubert wusste, dass man in der Landwirtschaft vorausdenken muss, um zu überleben. "Viele haben sich jahrelang zurückgelehnt und nur die Sachen abgeliefert", sagt er. Und das sei ein gewaltiger Fehler gewesen. Schon sein Vater habe zu ihm gesagt: Es gibt zwei Sorten von Leuten. Die einen lassen sich den Lohn ausrechnen, und die anderen rechnen sich den Lohn selber aus. Hubert wollte lieber zu Zweiteren gehören. Doch davor muss man sich vorwärts bewegen, denn nichts sei in der Branche so sicher wie Veränderung. "Wenn Du denkst, Du kannst 20, 30 Jahre dasselbe machen, bist du verloren", sagt der 64-Jährige.
Von Zwischenhändlern wie Molkereien unabhängig
Also begann er, unabhängig von Molkereien und anderen Zwischenhändlern zu arbeiten. Der Bauer müsse sich auf die Hinterfüße stellen, so seine Leitlinie - auch gegen die eigenen Vertreter. Die Vetters waren unter den Ersten, die einen Hofladen eröffneten, damals noch unter argwöhnischer Beobachtung der Vertreter der Landwirtschaftskammer, genauso belächelt wurde der Bau eines Seminarraums im neuen Hof. Als Franz Fischler als Landwirtschaftsminister dem Ländle Ende 1989 seinen ersten Besuch abstattete, war es dann aber doch der Vetterhof, den er sich unter anderem genauer ansehen wollte.
Nach der Vormittagsarbeit gibt es ein gemeinsames Mittagessen mit allen Mitarbeitern und den weiteren Gästen, die auf dem Hof wohnen, Simons Schwester hat gerade fünf Studienkollegen zu Gast. "Im Sommer wird das hier immer ein bisschen eine Kommune", sagt Simon lachend. Nach dem Mittagessen geht es aufs Feld, wo Simon sich auf den Traktor setzt, um entlang des gesamten Ackers kleine Dämme zu ziehen, die die Pflanzen in der niederschlagsreichen Region vor dem Wasser schützen - eine Technik, die er in Westösterreich als Einziger nutzt.
Wenn man Simon beobachtet, wirkt er wie ein Landwirt bis in die letzte Faser, doch es hätte auch alles ganz anders kommen können. Nach der landwirtschaftlichen Fachschule studierte er an der Universität für Bodenkultur und der Technischen Universität in Wien und wollte nach einem Auslandszivildienst in Sierra Leone voll und ganz in die Entwicklungszusammenarbeit einsteigen.
"Ich habe natürlich damals in Sierra Leone schon mitbekommen, wie kaputt diese Entwicklungshilfe und diese Entwicklungsindustrie teilweise sind", sagt er heute. Da er aber bei einem spannenden kleinen Projekt gearbeitet hatte, dachte er, man könne es auch vernünftig machen, wie er heute erzählt. Schlussendlich habe er dann aber bei einem Projekt in Tansania gemerkt, dass es einfach nicht funktioniere. "Das ist alles Schwachsinn - irgendwelchen Bauern zu erklären, wie sie ihre Sachen zu machen haben, selber eigentlich keine Ahnung zu haben, davon, wie das dort vonstattengeht, und das nicht einmal zu Hause anständig ausprobiert zu haben", sagt Vetter. So kehrte er doch wieder zurück nach Vorarlberg. Dort arbeitete er einige Jahre bei einem Regionalentwicklungsbüro, aber auch das war für ihn nicht das Wahre. "Da bist Du sofort der Zeigefinger-Typ, und das mag ich nicht." Er wolle vielmehr etwas anderes: "Ich mag selber geile Sachen machen, die den Leuten schmecken - und das anständig." Junge Leute, Praktikanten und Lehrlinge einzustellen, bringe unterm Strich einfach mehr als irgendeine Broschüre, um Ideen nach außen zu tragen.
Der Versuch, auf einen Standort eine Antwort zu finden
Nach getaner Arbeit versammelt sich am Abend das Team des Vetterhofes noch einmal um eine große Tafel im Freien. Die Vetters tischen auf: Vorarlberger Bergkäse, Lustenauer Senf und selbst produzierte Wurst und eingelegte Gurken. Unter freiem Himmel wird getratscht, gescherzt, und später am Lagerfeuer werden noch ein paar Bier aufgemacht. Gut 15 Leute, von Studenten und jungen Praktikanten über ältere Mitarbeiter bis hin zu Hubert Vetter sitzen versammelt und lassen den Abend ausklingen, bis es morgen wieder weitergeht. "Landwirtschaft ist immer der Versuch, auf einen Standort eine Antwort zu finden", sagt Simon Vetter. "Und der Standort ist nicht nur das Klima und der Boden, sondern auch die Leute, die hier wohnen."
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