1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Tinder-Fakes: Darum suchen Leute Sex und Liebe unter falscher Identität

Das falsche Tinder-Profil von Jul, ihr Foto zeigt das US-Model Emma Bella, der Fotograf heißt Nick Suarez - beide haben uns ihr Einverständnis gegeben, das Foto hier zu zeigen

Mila kommt mir gleich verdächtig vor. Mit geföhnten Haaren und mit colgateweißen Zähnen lächelt sie in die Kamera, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Und tatsächlich: Ihr Bild zeigt Iliana Papageorgiou, ein griechisches Model mit über 250.000 Instagram-Followern.

"Willst du mich verarschen?", frage ich sie im Chat.

"Ja genau", antwortet sie.

Die Idee kam mir an einem Abend mit Freunden, bei der alle ihre schlimmsten Tinder-Geschichten erzählten. Ich verstand nicht, was diese Fake-Tinder-Menschen wollen. Alle hatten schonmal Profile mit offensichtlich geklauten Fotos entdeckt. Ein Freund von mir recherchierte mal einem Typen hinterher, der aussah wie ein Model, aber kaum etwas über sich preisgab. In der umgekehrten Google-Bildersuche zeigte sich: Sein Match nutzte ein Foto des britischen Moderators Reggie Yates. Aus Wut löste er das Match sofort auf, ohne ihn darauf anzusprechen.

Mein Freund war einem Catfisher aufgesessen. "Catfishing" bedeutet: Menschen geben sich online eine neue Identität, flirten, sammeln Chatverläufe und privaten Informationen. Damit können sie ihr Gegenüber im schlimmsten Fall später bloßstellen, verletzen oder sogar erpressen.

Aus dem VICE-Netzwerk: Wenn sich junge Frauen operieren lassen, um wie ihr Instagram-Selfie auszusehen

So richtig leuchtete mir nicht ein, was man davon hat. Im Vergleich zu anderen sozialen Netzwerken erscheint mir Tinder viel zu oberflächlich, um mit Catfishing-Methoden wirklich langfristig Erfolg zu haben. Wer steckt hinter so etwas? Ich nehme mir vor, die Tinder-Fakes selbst zu fragen.

So wie etwa Mila.

Bald sieht mein Profil aus wie die Fake-Accounts, nach denen ich suche

Um mit ihnen in Kontakt zu treten, reaktiviere ich meinen Tinder-Account, lösche Bilder, löse die Instagram-Verknüpfung. Wenn ich nicht mit echten Personen chatte, sollen auch sie nicht viel über mich erfahren können. Als ich fertig bin, sieht mein Profil aus wie die Fake-Accounts, nach denen ich suche: komplett inhaltslos. Wenigstens sind mein Name und die Fotos echt.

Im Internet gibt es einige Hinweise, wie man Fake-Profile erkennt: wenige, aber sehr professionelle Bilder, kaum persönliche Informationen, unfassbar schöne Menschen - also alles, was "too good to be true" ist.

Daraufhin durchsuche ich Tinder: Ich wische nur Profile nach rechts mit weniger als drei Bildern, ohne persönliche Angaben oder Instagram-Account. Schnell erhöhe ich meinen Suchumkreis auf 160 Kilometer, stelle das Alter zwischen 18 und über 50 Jahre und schreibe beide Geschlechter an.

Und sofort bin ich den Fakern auf der Spur: Tatsächlich sehe ich viele markante Wangenknochen, definierte Muskeln und perfekte Instagram-Ästhetik. Die Personen auf den Fotos sehen aus wie Models. Alles definitiv too good to be true. Doch die Rückwärtssuche der Bilder auf Google erkennt keines der Gesichter. Stattdessen spuckt die Bildersuche nur Begriffe wie "Sixpack", "blond" oder "Mädchen" aus. Vielleicht sind die Leute einfach wirklich hübsch?

"Ich bin hässlich", schreibt Mila, "ich bekomme keine Matches"

Mila ist die erste, bei der sich mein Gefühl bestätigt. Als ich wissen will, warum sie das macht, antwortet sie: "Ich verbessere meine Sprache in verschiedenen Ländern." Mila stellt sich als Mann heraus, als Student. Er schreibt: "Mache meinen Master in Italien"

Seit einigen Monaten sei er mit dem falschen Profil unterwegs und chatte mittlerweile nur noch mit Frauen, schreibt er. "Ich habe versucht, mit Männern zu reden, aber die waren zu sehr auf das Sexuelle fokussiert." Aber zum Sprachenlernen könne er doch seinen echten Namen und Fotos nehmen? Er antwortet: "Ich bin hässlich. Ich bekomme keine Matches."

Rita* ist 25 und wohnt laut Tinder nur drei Kilometer von mir entfernt. Dabei ist das einzige Foto in ihrem Profil von Andrea Russett, einer YouTuberin, die in den USA lebt. Als ich sie drauf anspreche, öffnet auch sie sich. Rita ist eine Frau, das Foto ist geklaut - ihr angegebener Name sei allerdings echt. Auch sie denkt, dass sich niemand für ihr richtiges Aussehen begeistern würde.

"Ich bin sehr schüchtern und hier kann ich mich normal unterhalten oder flirten", schreibt sie. Mila sagt, dass sie freiwillig früher oder später zugebe, unter falscher Identität auf Tinder unterwegs zu sein. Rita aber behält es es lieber für sich. "Ich habe es bisher nicht so oft gesagt - eher dann nicht mehr geantwortet, wenn sie sich treffen wollten."

Die bisherigen Ergebnisse deprimieren mich. Warum haben 20-Jährige nicht genügend Selbstbewusstsein, sich als sich selbst auszugeben? Legen sich die Leute Fake-Profile an, weil wir im Netz eh alle fake sind? Lassen Facetune und Snapchat-Filter die Hemmschwelle sinken? Was macht es schon für einen Unterschied, ob man fremde Fotos klaut oder die eigenen bis zur Unkenntlichkeit bearbeitet? Rita und Mila lösen ihre Matches auf, bevor ich weiter nachfragen kann.

Alle Fake-Profile sind weiblich

Nach ein paar Tagen stelle ich die Suche exklusiv auf Männer ein. Denn alle Fakes waren weiblich. Doch jetzt zeigt sich: Ich habe kein Glück oder liege konsequent daneben. Weder über Jerome*, der in Tschechien eine Firma hat, noch über Onur*, der in seiner Freizeit Kindern Basketball beibringt, kann ich irgendetwas Verdächtiges finden. Trotz all der Hochglanzfotos.

"Bist du das auf den Bildern?", schreibe ich beiden.

Beide reagieren verwirrt.

Onur* möchte mich trotzdem kennenlernen. Ich entschließe mich, die Wahrheit zu sagen, und erzähle ihm von meinen Recherchen.

"Aber wonach suchst du denn dann auf Tinder?", will er wissen.

"Nach Posern mit geklauten Fotos und Namen", versuche ich mich zu rechtfertigen.

Ich merke, wie ich mich selbst schlecht fühle, weil ich hinter allem nur Verarsche wittere. Die Jungs aber reagieren entspannt und wünschen mir viel Glück.

Ich suche weiter. Juliana fällt mir sofort auf. Sie hat rote Haare, Sommersprossen und perfekte Duckface-Lippen. In ihrer Profilbeschreibung steht nur ein Herz-Emoji. Mein Verdacht bestätigt sich bei der Google-Bildersuche: Das Foto zeigt die 18-jährige US-Schauspielerin Abigail Cowen.

Hinter Juliana steckt wieder ein Mann. Er schickt mir eine Gif mit rotem Kussmund und sagt mir, dass ich hübsche Bilder habe. Als ich ihn darauf hinweise, dass ich sein Fake-Profil durchschaue, antwortet er zunächst nicht mehr. Ich hake nach:

"Magst du jetzt nicht mehr schreiben?"

"Was hätte ich davon", möchte er wissen.

"Du kannst mir erzählen, warum du dich als jemand anderes ausgibst", biete ich ihm an. Einige Stunden kommt nichts. Aber am nächsten Morgen habe ich wieder Nachrichten von Juliana. Der Typ hinter dem Profil erklärt mir, Spaß daran zu haben, andere zu verarschen, ohne selbst etwas preisgeben zu müssen. Er gibt an, in Wirklichkeit 22 zu sein und "mehr auf Sexting" als auf Smalltalk zu stehen. Bis auf eine weitere Gif bekomme ich dann nicht mehr aus ihm heraus. Ob er auch so lockere Sprüche gebracht hätte, wäre sein echtes Gesicht zu erkennen gewesen?

Jul lädt mich zur Gruppensexparty ein

Da habe ich aber schon auch ein neues Match: Jul. Kinnlange Haare, trägerloser Badeanzug, sucht nach neuen Mitgliedern für Gruppensexpartys für Frauen; curious kitten events. Sie postet zwei lange Nachrichten in unseren Chat. Ich würde optisch gut reinpassen, schreibt sie mir. Sie lädt mich zum gegenseitigen "Beschnuppern und Befühlen" ein. "Du hast jetzt bestimmt ganz viele Fragen, oder?", fragt sie.

In der Tat - aber anscheinend die falschen. Als ich wissen will, wer denn genau auf den Bildern in ihrem Profil zu sehen sei, blockt sie mich sofort. Tatsächlich zeigt das Bild das Model Emma Bella, das Bild hat der Fotograf Nick Suarez geschossen. Ich würde gerne wissen, ob die Fake-Profile tatsächlich funktionieren, um Leute zu Sexpartys zu locken. Im Internet findet man momentan die Events nicht in Deutschland, sondern nur in den USA. Aber Jul kann ich nicht mehr fragen.

Innerhalb einer Woche hatte ich vierzig Matches, sechs definitive Fake-Profile und einige Männer fälschlicherweise beschuldigt, zu faken. Ich schaue noch einmal auf die Screenshots der Chatverläufe. Offensichtlich ist es vor allem fehlendes Selbstbewusstsein, das Menschen dazu bewegt, sich auf einer Dating-App als jemand anderes auszugeben. Das Verrückte ist: Sie nutzen die Fotos von echten Menschen - was in Deutschland gegen das Persönlichkeitsrecht und gegen das Recht am eigenen Bild verstößt.

Was mich auch verunsichert hat: Durch mein Experiment ist mir bewusst geworden, wie leicht es ist, sich eine falsche Identität zu geben. Viele der Profile die ich anschrieb, waren letztendlich echt - obwohl ich sie mit ihren coolen Posen und perfekten Lächeln nicht dafür gehalten habe. Too good to be true wirkten sie alle. Die Grenze zwischen dem, was echt ist und was nicht, verschwimmt im Internet. Dafür braucht man wohl nicht mal geklaute Fotos.

* Name geändert

Wird dein Foto von Fremden in den sozialen Netzwerken genutzt? Dann kannst du bei der Polizei Strafanzeige stellen. Informationen rund um Identitätsdiebstahl hat zum Beispiel die Polizei Brandenburg auf ihrer Website zusammengetragen.

Zum Original