Eine Reportage von Leon Kaessmann
Schon oft hat Alexander versucht, clean zu werden - immer erfolglos. Jetzt soll harte Arbeit auf dem Bauernhof ihn zu einem neuen Menschen machen. Kann das funktionieren?
Zum Frühstück gibt es Brot, Käse, Wurst und Milch, die Alexander Stunden zuvor gemolken hat. Vor den Fenstern des Bauernhofs geht die Dezembersonne auf und lässt den Schnee schmelzen, drinnen in der geheizten Stube sitzt Alexander mit dem Bauernehepaar Gitti und Peter Schmölz an einem Tisch. Sie lachen und unterhalten sich nach getaner Stallarbeit, als wären sie eine Familie. "Brauchst du noch was?", fragt Gitti Schmölz wie eine Mutter und schenkt Kaffee ein. Aber Alexander ist nicht ihr Sohn. Der 46-Jährige ist ihr "Klient". Mehr als zwei Jahrzehnte lang spritzte er sich Heroin, rauchte Cannabis, trank Alkohol oder zog Crystal Meth. Hier, auf dem Hof der Schmölz', will er wieder zurück ins Leben finden.
Der Ferienhof Schmölz gehört zu einem Projekt des Münchener Vereins Prop: Therapie im Pfaffenwinkel, kurz TiP. 14 Höfe auf dem bayerischen Land sind dabei und stellen den Betroffenen eine Wohnung zur Verfügung. Im Gegenzug müssen die Klienten sechs Tage die Woche von frühmorgens bis abends arbeiten. Neun Monate geht das Programm. Es gibt weder Ärzte, Medikamente noch Therapeuten. TiP ist wie ein Bootcamp auf dem Bauernhof.
Seit mehr als 20 Jahren versucht Alexander, immer wieder ohne Drogen zu leben. Bis jetzt jedes Mal erfolglos. Nun lebt und arbeitet er seit sechs Monaten auf dem kleinen Milchbauernhof in Wildberg, einem Dorf mit 69 Einwohnern im Allgäu: eine kleine Kirche, ein paar Ferienwohnungen, keine Bushaltestelle. Hier bekommt Alexander vielleicht seine letzte Chance auf ein Leben, in dem er die Kontrolle hat und nicht die Drogen. Aber kann er wieder Teil der Gesellschaft werden, wenn er ein Dreivierteljahr abgeschieden von ihr lebt?
Um 6.30 Uhr steht Alexander im Stall und schaufelt Mist aus den Viehboxen, wie jeden Morgen. "Ich mag die Arbeit mit Tieren", sagt er und grinst, "die geben einem immer etwas zurück." Dampfwolken bilden sich vor Alexanders Gesicht, es ist noch dunkel und kalt auf dem Hof. Während Gitti Schmölz den Melkroboter bedient, schiebt Alexander den letzten Rest Kuhmist in die Ablaufrinne. "Der Alex macht das super", sagt Gitti, "er ist ein sehr angenehmer und motivierter Klient."
Viele Suchtkranke wissen nichts Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen
Nicht alle der 91 Kühe wollen gemolken werden. Doch sie müssen, sonst entzünden sich die Euter. Sanft drängt Alexander die Tiere an ihren Boxen vorbei in Richtung Melkroboter. Während sich die automatischen Saugarme um die Zitzen einer verängstigten Kuh schließen, beruhigt Alexander das verängstigte Tier, streichelt es und redet ihm gut zu. Mehrere Minuten verharrt er und drückt seinen Körper an den der Kuh.
Alexander trägt Jogginghose, stoppeligen Bart und hat ein freundliches Lächeln im etwas eingefallenen Gesicht. Er wirkt nicht frustriert von der eintönigen Arbeit. Das gehöre halt dazu, sagt er. Wichtiger ist ihm, dass seine Arbeit wertgeschätzt wird. Das weiß auch Gitti Schmölz, die ihm immer wieder ein paar nette Worte zuruft. "Vielen Dank, Alex! Sieht gut aus."
Als Alexander sich bei TiP bewarb, war ihm hauptsächlich der Abstand zu anderen Süchtigen wichtig. Das schrieb er in seiner Bewerbung für das Programm. Er hatte vom Sozialdienst seiner früheren Entgiftungsstation davon erfahren. Er war sich schnell sicher, dass er es probieren wollte. Eine Ortsveränderung, ein strukturierter Tagesablauf, die Möglichkeit, mit Tieren zu arbeiten: Das klang vielversprechend. Alexander sagt, dass ihm seine früheren konventionellen Therapien wenig gebracht hätten. Da habe er nur herumgesessen, sagt er, und mit den anderen Teilnehmern über das geredet, was ihren Alltag bestimmte: Drogen, und wie man an sie kommt.
Auch René Spilner, der Alexander im Rahmen des Programms betreut, sieht diesen Vorteil. 40 bis 50 Betten hätten klassische Suchtkliniken mindestens, "man kann sich denken, worüber die Gespräche dann gehen", sagt er. Auf dem Bauernhof gebe es nur jeweils einen Klienten, der sich jeweils voll auf sich konzentrieren könne. Der geregelte Hofalltag stabilisiere die Suchtkranken, in der Familie könnten sie lernen, wieder als Teil der Gesellschaft zu funktionieren.
"Deutschland hat eigentlich eines der weltweit besten Suchthilfesysteme", sagt Eva Hoch, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Laut der Suchtexpertin sind Rückfälle Teil einer Suchterkrankung und können vorkommen. "Der Konsum ist eben hochautomatisiert." Viele Suchtkranke realisierten erst in der Klinik, wie ernst ihre Lage sei. Wenn sie dann noch mit so vielen anderen Menschen mit ähnlichen Problemen konfrontiert seien, könne das schnell zu viel werden. Für Hoch ist der Wechsel des Umfelds bei TiP eine Chance. Hier könne Alexander lernen, wie ein konsumfreier Tag aussehe und komme nicht nach sechs Wochen Entgiftung zurück in sein altes Umfeld. "Viele, die aufhören zu konsumieren, wissen ja gar nicht mehr: Wohin mit meiner Zeit?"
Ein Lüge in der Familie wird Knackpunkt in seinem Leben
Alexanders Geschichte beginnt in einem Dorf in Niederbayern. Nach dem Hauptschulabschluss begann er eine Ausbildung zum CNC-Dreher, einem Job in der Metallindustrie. Er probierte Drogen aus: Erst Cannabis, später Kokain, Ecstasy, LSD. Dann erfuhr Alexander, dass sein Vater nicht sein richtiger Vater ist. Seine Familie habe ihn jahrelang belogen, erzählt er. Für ihn ist das der große Bruch in seinem Leben. Er habe daraufhin eine "Scheiß-drauf-Mentalität" entwickelt. Irgendwie schaffte er seine Ausbildung, wurde jedoch nicht übernommen. Mit 17 begann er, sich regelmäßig Heroin zu spritzen. Die Droge wird später seine Familie zerstören. Während der nächsten zehn Jahre füllte sich sein Führungszeugnis mit Kleinkriminalität: Betrug, Diebstahl, Schwarzfahren, Drogenbesitz. Er dealte, um seine Existenz zu sichern.
Alexander geht offen mit seiner Vergangenheit um. Er hat sich damit abgefunden, dass viele ihn als Junkie abstempeln, ihn nicht als Teil der Gesellschaft sehen. Lange war er schwer depressiv. Umso dankbarer ist er für die Chance auf einen Neuanfang. "Peter und Gitti sind Herzensmenschen", sagt er, "die akzeptieren mich, so wie ich bin."
Wenn Alexander mit der Arbeit fertig ist, läuft er ein paar Minuten durch das Dorf zu seiner eigenen Wohnung. Sie ist klein und simpel eingerichtet im Landhausstil: Küche, Schlafzimmer mit einer Bergmalerei an der Wand, Bad. Hier verbringt er seine freien Sonntage, sieht fern oder ruht sich einfach nur aus. Manchmal geht er auch spazieren, aber dafür reicht die Kraft nicht immer. Sonntag ist auch der einzige Wochentag, an dem Alexander sich komplett selbst versorgen muss. Unter der Woche isst er mit der Hoffamilie. Oft gibt ihm Gitti Schmölz abends noch Essenspakete mit.
Für das Ehepaar Schmölz ist die räumliche Distanz zwischen Alexanders Wohnung und ihrem Hof wichtig. Auch wenn die Trennung manchmal schwerfalle, seien sie keine Gasteltern, sagt Gitti Schmölz. Um ihre Privatsphäre zu wahren, verbringen das Ehepaar und Alexander ihre Abende getrennt voneinander. Gitti und Peter Schmölz vermeiden es, vor ihren Klienten über allzu Privates zu sprechen und, "natürlich", Alkohol zu trinken. Das falle schon manchmal schwer, geben sie zu. Doch Rücksichtnahme sei eben wichtig.
Seit 17 Jahren nimmt das Ehepaar Suchtkranke auf. Sie erhalten kein Geld für die Teilnahme am Programm, profitieren aber von einer kostenlosen Arbeitskraft. Eine richtige Stelle könnten sie Alexander nicht anbieten. Doch die Aufnahme der Klienten sei ihnen zur Herzensangelegenheit geworden, sagen sie. Alexander bekommt dafür Vertrauen und eine neue Chance geschenkt, muss sich jedoch in den mitunter harten Arbeitsalltag einfinden. Er braucht den Hof und der Hof braucht ihn. Peter und Gitti Schmölz haben schon die verschiedensten Charaktere erlebt, Menschen zwischen 18 und 50, manche aus sozial schwachen Familien, andere "aus bestem Hause". Bereut haben sie es nie.
An diesem Morgen kommt Spilner zum Frühstück dazu. Einmal in der Woche besucht der Leiter von TiP seine Klienten auf ihren Höfen. Spilner ist leger gekleidet, der Ton zwischen Alexander und ihm ist kumpelhaft, die Themen sind es nicht. Alexander hat über die Jahrzehnte fast 50.000 Euro Schulden von mehr als 15 Gläubigern angehäuft: darunter 14.000 Euro Stromschulden, Rechnungen wegen Fahren ohne Fahrschein und etliche Gerichtskosten. Briefe macht er nicht mehr auf, "da sind eh nur Mahnungen drin". Mit Spilners Hilfe will er bald Privatinsolvenz anmelden.
"Alex hat sich gut eingelebt", stellt Spilner fest. Er profitiere von der festen Tagesstruktur und dem guten zwischenmenschlichen Kontakt mit der Hoffamilie. Es ist für ihn klar, dass er nicht mehr in das alte Umfeld zurückkehren möchte. "Ich halte ihn aktuell für sehr stabil", sagt Spilner. Er könne sich vorstellen, dass Alexander in den kommenden Jahren selbstständig leben könne.
Er verheimlichte seiner neuen Freundin, dass er seinen Job verloren hatte
Vor 20 Jahren versuchte der damals 26-jährige Alexander zum ersten Mal, drogenfrei zu leben. Seine Freundin und er waren zu diesem Zeitpunkt heroinabhängig und bekamen ein Kind. Das Jugendamt ordnete eine Familientherapie an, doch sie wurden rückfällig. Das Jugendamt nahm ihnen das Kind weg. Mehrere Entgiftungen und Familientherapien scheiterten. Das Paar trennte sich nach vier Jahren. Alexander hat bis heute keinen Kontakt zu seiner Tochter.
Alexander versuchte einen Neuanfang in einer anderen Stadt. Für ein paar Jahre führte er ein relativ normales Leben: Solider Job, neue Partnerin, auch der Kontakt zu seiner Familie wurde kurzzeitig besser. Dann bot ihm ein Arbeitskollege Crystal Meth an. Alexander merkte: Die aufputschende Droge macht ihn leistungsfähiger. Manchmal blieb er mehrere Tage am Stück wach. Dass er deswegen seinen Job wieder verlor, verheimlichte er seiner Freundin für zwei Jahre. Er verkaufte Cannabis, um sein Leben zu finanzieren. Als Alexanders Freundin von seinem Doppelleben erfuhr, trennte sie sich von ihm.
Er zog zurück in sein Heimatdorf und kümmerte sich bis zu ihrem Tod um seine krebskranke Mutter. Während das Coronavirus Deutschland lahmlegte, begann er die nächste Therapie. Doch nach ihr folgte der nächste Tiefschlag. Er verlor seine Wohnung und begann zu trinken.
Auf dem Bauernhof darf Alexander keine Drogen nehmen. Die Klienten müssen während ihres Aufenthalts abstinent bleiben und für die ersten acht Wochen ihr Handy abgeben, damit sie sich voll auf die Therapie konzentrieren können. Auf dem Hof wacht Gitti Schmölz über diese Regeln. Während seine Frau gern erzählt, bleibt Peter Schmölz eher zurückhaltend. Er ist ein ruhiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und großen, kräftigen Händen. Immer wieder fahre er mit Alexander auf dem Traktor raus, erzählt er in breitestem Allgäuerisch, zum Beispiel zum Holzhacken in den Wald. Laut Peter Schmölz sind das Momente, in denen Alexander viel erzählt. Er höre dann einfach zu. Er sagt: "Wir helfen uns halt gegenseitig."
Harter Entzug auf dem Bauernhof
Am Nachmittag fährt Spilner mit Alexander in den 20 Minuten entfernten Supermarkt. Ihr wöchentliches Ritual. Denn was für die meisten Alltag ist, kann für Alexander überfordernd sein. Nun übt er, seine Lebensmittel sinnvoll über eine Woche aufzuteilen – und sparsam zu sein. Es ist der letzte Einkauf vor Weihnachten. Über die Feiertage muss er sich selbst versorgen.
Alexander schiebt seinen Einkaufswagen durch den Supermarkt und mustert die Regale. Ein Zettel an seinem Einkaufswagen gibt ihm Orientierung: Duschgel, Deo, Joghurt, Ente, Knödel. Seine Augen huschen über die Regale von den teuren Produkten auf Augenhöhe zu den günstigeren Alternativen weiter unten. "Immer auf den Kilopreis schauen", sagt Spilner immer wieder.
In den vergangenen Jahren ging Alexander meistens nur einkaufen, um sich die nächsten Schnapsflaschen zu besorgen. Nebenbei warf er dann ein paar Lebensmittel in den Wagen, ohne auf den Preis zu achten. Als er nach seiner letzten Therapie auf der Straße landete, begann Alexander, viel Alkohol zu trinken. Bis zu zwei Flaschen Schnaps am Tag. Der Alkohol habe ihn verwandelt, erinnert er sich, "ich wurde böse, ausfallend, unzufrieden". Seinen Frust ließ er an den wenigen Menschen aus, die er zu diesem Zeitpunkt noch hatte. Der Alkohol zerstörte seine nächste Beziehung.
Die Vergangenheit kann Alexander sogar im Getränkemarkt einholen. Eigentlich möchte er nur ein Sixpack Pepsi kaufen. Doch um sein Ziel zu erreichen, muss er zwischen Türmen von Bierkästen durch und an meterhohen Regalen voller Schnapsflaschen vorbeilaufen. Ein Trigger, der vermutlich für immer bleiben wird. Zielstrebig durchquert Alexander die Alkoholgasse. Mittlerweile kann er die falschen Gedanken bei diesem Anblick wegschieben, aber leicht ist es trotzdem nicht. Auch an der Kasse lauern alte Erinnerungen in Form von kleinen Wodkafläschchen direkt neben dem Kassenband. "Man sollte diese Scheißflaschen verbieten", schimpft Alexander, "die sind wie Süßigkeiten für Kinder."
Wie kann es für Alexander nach der Zeit auf dem Hof weitergehen?
Zurück in seiner kleinen Wohnung in Wildberg räumt Alexander seine Einkäufe aus. In seinem neuen Bett schläft er so gut wie schon lange nicht mehr. Auch an das frühe Aufstehen hat er sich mittlerweile gewöhnt. Eigentlich wäre seine Therapie im frühen Sommer vorbei, doch er möchte sie verlängern. Das Leben auf dem Bauernhof gibt im Halt, er hat eine Routine, seine Arbeit wird so wertgeschätzt, wie wohl noch nie in seinem Leben. Aber auch Alexander weiß, dass er nicht für immer bleiben kann. Dass er sein Leben noch einmal selbst in die Hand nehmen muss.
Eine mögliche Aufgabe für ihn könnte die Arbeit mit Tieren sein. Alexander hat seine schwarze Katze Lilli auf den Hof mitgebracht. Sie begleitet ihn seit neun Jahren. Es war ihm wichtig, dass sie auf den Hof mitkommen durfte. Um sie hat er sich immer gekümmert, oft besser als um sich selbst. "Katzenfutter habe ich sogar immer noch vor Tabak gekauft."
Auch in der Arbeit mit den Hoftieren zeigt Alexander Geschick. Er habe schon früh eine gute Beziehung zu ihren Kühen aufgebaut, sagt Bäuerin Gitti. Ein Job im Tierheim wäre toll, sagt er, auch wenn er weiß, dass es da so gut wie keine freien Stellen gibt. Vielleicht aber auch doch in der Suchtprävention helfen, wenn er es selber geschafft hat? So genau weiß er noch nicht, wie es nach der Therapie weitergeht. Ein paar Träume für ein neues Leben danach hat Alexander trotzdem. "Führerschein wäre geil. Mal Motorrad fahren …"
Wichtiger sind erst einmal Job und Wohnung. Ein geregelter Tagesablauf, Routine reinkriegen. Dass er sein altes Umfeld verlassen will, ist für Alexander klar. Er überlegt, in eine therapeutische Wohngemeinschaft zu ziehen, vielleicht in einer neuen Stadt. Hauptsache, nicht wieder die Kontrolle verlieren. Wenn das wieder passiere, sagt Alexander, wisse er auch nicht mehr weiter. Zu oft hat es nicht geklappt. Der Neustart wird eine Herausforderung, das weiß Alexander. Doch auf dem Bauernhof hat er bisher bewiesen, dass er etwas schaffen kann, wenn er es will. Das Programm gebe ihm Kraft, sagt Alexander: "Ich bin selbst überrascht, was ich alles leisten kann."
*Alexander möchte in diesem Text nicht mit Nachnamen erscheinen, dieser ist der Redaktion jedoch bekannt.