Leon Igel

Journalist , Zürich/Mannheim/Fulda

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Artikel

Medienwandel: Warum unsere Kinder nicht mehr gut lesen und schreiben können

Erregungssucht, Hass und Filterblasen - die Schattenseiten der sozialen Medien sind bekannt. Weniger bekannt ist, dass sie auf das Grundlegendste einwirken, das der Mensch hat: seine Sprache. Wie in einem Schnellkochtopf beschleunigen Facebook, Instagram und Co. den Veränderungsprozess der Sprache. Da die Netzwerke vor allem auf Text basieren, gilt das besonders für die Schriftsprache.

Die Schriftsprache ist ein System aus Normen und Regeln, das von der Alltagssprache abweicht. Man schreibt, wie man nicht spräche. Auch wenn in den sozialen Medien viel geschrieben wird, ist es da anders. Die Texte dort imitieren überwiegend mündliche Kommunikation. Man schreibt also, wie man spricht. Die Texte missachten damit die Regeln der Schriftsprache, ihre Satzstruktur ist weniger komplex. Suchte man ein neues Babel, es wäre in den sozialen Medien bereits errichtet. Mündlich verständlich verbindet sich mit schriftlich falsch.

Die Babel-Medien setzen voraus, dass man sich im Wirrwarr nicht verwirren lässt, sondern zwischen Geschreibsel und korrektem Schreiben unterscheiden kann. Und man dazwischen springen kann. Hier wird es ungerecht. Diese Sprachkompetenz kann bei älteren Leuten vorausgesetzt werden, einfach, weil ihre lexikalischen Fähigkeiten schon ausgebildet waren, als sie in das Internet-Babel geworfen wurden.

Im Selbstgespräch

Jüngere Leute, die in den 2000ern geboren wurden, hatten dieses Glück nicht mehr. Seitdem sie lesen und schreiben können, bewegen sich die jungen Menschen im Netz. In der Schule lernen sie schreiben, auf dem Smartphone wenden sie es an, so sind sie ständig mit der falschen Schriftsprache konfrontiert. Das kann nur zu Verwirrung und Fehlern führen. Die jungen Leute sind die Leidtragenden dieser Entwicklung. Sie müssen ausbaden, dass die Erwachsenen verschlafen haben, sie für die schriftlichen Absonderlichkeiten im Netz zu sensibilisieren.

Hinter der mangelhaften Sprachkompetenz steckt eine geringe Fähigkeit, die Medien nicht nur zu nutzen, sondern sie auch zu reflektieren. Nur wer sich über die Regeln und Normen der Social-Media-Welt und der alten Textwelt im Klaren ist, kann sich in beiden sicher bewegen.

Die Texte im Babel-Universum sind Essenzen im Miniaturformat. Mit ihren wenigen hundert Zeichen können sie der Komplexität der Welt nicht gerecht werden. Wenn sich viele Jugendliche aber nur mit diesen Essenzen beschäftigen, lernen sie nicht, lange, komplexe Texte zu verstehen. Wie sollen junge Menschen, die Probleme mit schwierigen Texten haben, durchs Leben gehen? Denn wer die Welt gestalten will, muss sich ihrer Komplexität stellen. Dafür braucht es den komplexen Text, weil der Mensch nur mit ihm das komplexe Denken lernt. Denken ist das Gespräch des Menschen mit sich selbst. Wer schreibt, der übersetzt dieses Selbstgespräch in einen Text und macht es für andere nachvollziehbar. Wer liest, der nimmt am Selbstgespräch eines anderen teil. Lesen und Schreiben sind Formen des Denkens, also des stummen Sprechens. Wer sprechen lernt, der lernt denken. Und wer denken will, der muss sprechen lernen. Das heißt: Sprache ist der menschliche Zugang zur Welt, weil sie das Denken ermöglicht. Die Sprache ist das Grundlegendste, das der Mensch hat.

In der Alltagssprache nutzen viele Menschen „erzählen" als Synonym für „sprechen". Das ist klug, denn das Erzählen ist tatsächlich so, wie das Sprechen sein sollte. Eine Erzählung ist die anschauliche, geordnete Wiedergabe eines Sachverhaltes. Eine Erzählung unterstellt dem Erzählten einen Sinnzusammenhang, sie ist ein Stück Interpretation der Welt. Indem der Mensch erzählt, schafft er Ordnung in der Unordnung der Welt. Nur im Erzählen lässt sich die Welt verstehen.

Der denkende Mensch muss also erzählen können. Für meisterhafte Erzählungen gibt es eine Form: die Literatur. Wer erzählen lernen will, ist mit Literatur also gut bedient. Jetzt wird deutlich, wozu die komplizierten Ausführungen der vergangenen Zeilen dienen. Sie sollen zeigen, dass die scheinbar antiquierte Predigt, mehr Bücher zu lesen, ihre Berechtigung hat.

Bei jungen Leuten ist das nicht angesagt. Laut einer Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest greifen nur noch 40 Prozent aller Gymnasiasten regelmäßig zu einem Buch. Aber 70 Prozent spielen digitale Games. Das ist zwar keine Weltflucht, denn viele Computerspiele sind komplex. Sie funktionieren ähnlich wie Literatur und erzählen fiktionale Geschichten in fiktiven Welten. Die Spieler müssen Probleme lösen. Das erfordert Fingerfertigkeiten und Gehirnschmalz. Doch das digitale Spiel kann den literarischen Text nicht ersetzen. Eben weil es die Grundlage des Menschlichen überspringt: den Fokus auf die Sprache. Am Ende des Tages müssen wir mit dem Nachbarn kommunizieren, der Chefin eine Mail schreiben oder uns zu den Ungeheuerlichkeiten in der Welt positionieren. Mit einem Game lernt man das nicht.

Das Digitale ist für die jungen Menschen attraktiver, weil es einen direkten, lustvollen Bezug zu ihrer Lebensrealität herstellt. Auf der anderen Seite steht die Schule, die alles daransetzt, ihren Schülern die Lust an Literatur zu vermiesen. Muss man Schülerinnen in der achten Klasse mit Schiller traktieren? Was will Literaturvermittlung? Einen Kanon vermitteln oder Menschen für die Kraft der Literatur begeistern? Dafür muss man Texte gut auswählen.

Genau für dieses Anliegen hat etwa der Schriftsteller Leander Steinkopf kürzlich eine Anthologie herausgegeben mit dem programmatischen Titel Neue Schule. In einer Erzählung darin von Shida Bazyar geht es um eine Aubergine. Die Aubergine ist das Penis-Symbol beim Sexting im Digitalen. Das literarisiert Bazyar. Was Literatur vermag, können Jugendliche an Bazyars Aubergine leicht verstehen, weil es sie in ihrem Alltag abholt. Aber dann geht es weiter: In die Komplexität des Lebens

Ohne Frage: Gegen die Vergnügungsspiralen des Digitalen kann auch die literarische Sex-Aubergine nicht gewinnen, aber sie kann ein Startpunkt für eine Auseinandersetzung mit dem Erzählen sein - Medienreflexion inklusive. Begeistert das die Jugendlichen, folgt das Lesen anderer Texte automatisch. Denn eines ist sicher: Jugendliche sind weder faul noch dumm. Sie sind wissbegierig und fantasievoll und sie wollen ihre Zukunft gestalten.


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